Das Genie als Fetisch des Eigenen

 

1.

Sowohl Friedrich Hölderlin als auch Ludwig van Beethoven wurden 1770 geboren, erlebten die revolutionären Ereignisse in Frankreich als junge Erwachsene, hofften und litten mit und gehörten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur ersten Generation der bürgerlichen Künstler – also jener Kunstschaffenden, die in einem dialektischen Sinn bürgerlich frei waren: Bürger, frei von feudaler Verpflichtung und feudalem Zwang, aber auch: freigesetzt von den materiellen Sicherheiten des feudalen Kunstmäzenatentums. In dieser historischen Situation wird für den Künstler der «Genie»-Begriff wichtig. Der von allen äusseren, paternalistischen Sicherheiten Freigesetzte muss die Sicherheiten aus sich selber schöpfen. Und das tut er, indem er das Neue, Nie-Dagewesene, Originale, distinkt Eigene ergründet und mit seinem Namen zu verbinden versucht. Dieses Schöpfen des Eigenen macht das Genie, d. h. den bürgerlichen Künstler in seiner anerkannten Form erst aus. Der Fortschritt in der Kunst besteht seither aus den aufgerissenen Gräben, in denen Kunstschaffende nach diesem Eigenen gruben.

2.

Wer in der bürgerlichen Welt Kunst machen will, lebt seit 1800 von der wirkungsvollen Artikulation seiner Genialität. Der Weg zum Eigenen ist aber in der Kunst nicht anders denkbar denn als Weg zum Eigenen im Material. Nur jene, die ein solches Eigenes glaubhaft machen, können hoffen, als «Genies» mindestens halbwegs ihre Existenz sichern zu können. Hölderlin und Beethoven gehören zu den Ersten, die diesen Weg unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen begehen. Der Weg beider führt, fast gleichzeitig, in grosse gesundheitliche Krisen (Hölderlins Zusammenbruch 1806, Beethovens Taubheit 1808).

3.

Im Bemühen, dem gesellschaftlichen Anspruch an den Künstler als Genie gerecht zu werden, müssen beide nach der Jahrhundertwende auf der Suche nach ihrem Eigenen im Material unabhängig voneinander auf eine Erkenntnis gestossen sein, die ihr Bemühen fundamental in Frage stellte: Das Material leistet nicht, was die bürgerliche – also zu jener Zeit durchaus revolutionäre – Ästhetik als Conditio sine qua non von den Kunstschaffenden fordert: das distinkt Eigene. Das Eigene im Material gibt es nicht, es sei denn als Utopie: Das Eigene im Material ist ortlos, eben ou topos. Wenn das aber so ist, dann ist es unmöglich, Eigenes aus sich selber zu schöpfen und so zum «Genie» zu werden. «Genie» entpuppt sich als ein kunstfeindliches Ideologem – als zynische Forderung von Auftraggebern und Publikum an die Kunstschaffenden. Jene verlangen von diesen nicht nur ein Leben aus Luft und Liebe, sondern darüberhinaus das Erreichen eines unmöglichen Ziels. So gesehen konnte in den letzten zweihundert Jahren niemand «Genie» sein, aber viele mussten – wollten sie überleben – versuchen, als solches zu gelten. Wer es nicht schaffte und zum Beispiel psychisch zusammenbrach, erhielt als Trostpreis nicht selten den posthumen Titel «Genie». So schuf sich die bürgerliche Ästhetik die vom Bürgertum erzwungene artistische Scharlatanerie als Ideal des Kunstschaffens.

4.

Im Moment, da der Widerspruch zwischen der Forderung der Gesellschaft und den objektiven Möglichkeiten des Materials als unauflöslich durchschaut war, war das Scheitern für Hölderlin und Beethoven zwingend vorgezeichnet. Die Spätwerke Beethovens (etwa die späten sechs Streichquartette von 1824 bis 1826[1]) und Hölderlins (seine Scardanelli-Gedichte ab 1806) müssten deshalb entschlüsselbar sein als «post-bürgerliche» Kunst, deren Avantgardefunktion bis heute virulent ist: Sie hat das «Eigene» am Material als Fetisch durchschaut und aus der Denunziation der Unmöglichkeit von Eigenem ein Spätwerk geschaffen. Dass diese Einsicht – de facto die Widerlegung der bürgerlichen Ästhetik, bevor diese sich richtig entfaltet hat – zur Zeit von Hölderlin und Beethoven nicht vermittelbar war, war ein Grund ihrer Verzweiflung. Sie sahen – zumindest im Bereich des Ästhetischen – eine werdende Welt bereits gescheitert, deren Blütezeit sie nicht mehr erlebt haben.

[1] Nach Anton Schindler (Biografie von Ludwig van Beethoven. Leipzig [Reclam] [1871]/1977 , S. 382ff.) ist zum Beispiel das B-Dur-Quartett Opus 130 «das Monstrum aller Quartettmusik». Zu fragen wäre, ob das «Dunkle», das die Zeitgenossen beim ersten Anhören der späten Streichquartette wahrnahmen, auf eine Zurücknahme der Melodie als Symbol des individuellen Ausdruckswillens zugunsten des gleichsam kollektiveren, unpersönlicheren vierstimmigen Satzes zurückzuführen war. Und ob diese Zurücknahme signalisiert, dass diese Streichquartette so den Fetisch des unmöglichen Eigenen im musikalischen Material zu denunzieren versuchten.

 (26.10./1.11.1990; 25.11.1997; 20.09.2017; 21.06.2018)

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