Bin ich ein Underground-Literat?

Die Zeitungsseite ist mit «Bücherwurm Dezember 1990, S. 3» überschrieben – vermutlich war das die Literaturbeilage der «Berner Tagwacht». Der ganzseitige Essay von Hans Wittwer trägt den Titel «Spurensicherung im Untergrund» und setzt sich nach einer Einführung mit den Verlagen Nachtmaschine, Lichtspuren und Orte auseinander. Vor einer abschliessenden Betrachtung folgt der Zwischentitel «Fredi Lerch: Konvolut»:

*

«Eine neue Art von Underground hat der Berner Fredi Lerch, Redaktor bei der ‘WochenZeitung’, im November des vergangenen Jahres herausgebracht. Das 252-seitige Werk mit dem Titel ‘Konvolut’ ist in einer Auflage von 499 Unikaten erschienen und enthält nebst Lyrik zwei höchst instruktive Essays über Sprache und Poetik. Wie der Autor im Vorwort festhält, ist das Konvolut kein Buch im herkömmlichen Sinn, sondern ‘papierene luft’ und ‘ nur zum preis von 0 Franken verkaufbar, […] es verzichtet darauf, ware zu sein’. Der Verfasser, der die ganzen Produktionskosten selber bezahlt hat, verteilt nun das Konvolut ‘an jene leute, die er für würdig befindet, selbiges nach gutdünken zu lesen, weiterzugeben oder wegzuwerfen. Statt die simulierte ‘öffentlichkeit’ [staatliche und private Kulturförderung, Verlage, Büchermarkt, anonymes Publikum, hw] des ‘buches’ erreicht es das reale netz des verfassers’.

Auf meine Frage, ob er sich als Underground-Literat verstehe, winkt Lerch ab. Das sei kein Begriff, den er sich bei der Herausgabe seines Werkes überlegt habe. ‘Ich bin der Meinung, dass Underground eine Szene braucht, und diese gab es in der Schweiz wahrscheinlich nie. Die nicht-offizielle Kultur hat man hier immer vereinzelt und kaputt gemacht.’ Lerch engagierte sich anfangs der 80er Jahre in der Pressegruppe der Berner Bewegung, die unter anderem den ‘Drahtzieher’ herausbrachte. Für ihn ist der Begriff ‘Widerstand’ wichtiger. Seine Texte haben einen politischen Anspruch, ‘Wenn ich Widerstand leisten will, muss ich erst mal wissen, zu was die Sprache eigentlich taugt. Also Politisierung des Widerstandes am Sachbegriff. Mein Projekt ist, das Denken zu lernen.’

Lerch hat einen anderen Anspruch als die Beatniks in den 60er Jahren. Er versucht mit seiner Haltung zu beweisen, dass die sogenannte ‘Öffentlichkeit’ heutzutage eine Illusion ist. ‘Die Undergroundkultur war früher eine dissidente Position zur offiziellen Öffentlichkeit. Doch diese existiert, zumindest in der Schweiz, nicht mehr. Es gibt nur noch Teilöffentlichkeiten, die sich gegeneinander abschotten und zerfallen. Die Ebenen Underground und offizielle Öffentlichkeit sind durchlässig geworden. In den 60er Jahren haben Handkes ‘Publikumsbeschimpfungen’ noch gewirkt, heute wären sie zwecklos.’

Auch wenn der Dichter Fredi Lerch nicht in der Tradition des legendären Underground steht und auch keinen Anspruch darauf erhebt, ist sein Unterfangen womöglich radikaler als alles, was in diesem Land je auf diesem Gebiet gemacht wurde. Es wäre aus heutiger Sicht sogar wünschenswert, weitere Autor/innen würden seinem Beispiel folgen. Die Bücherflut würde eingedämmt, die Qualität der Texte stiege, und es entstünde wieder, wenn auch marginal – eine Diskussionskultur.»

(26.09.2017; 21.06.2018)

 

Nachtrag

Die hier zitierten Statements von mir wirken auf mich wie verwehte Rauchzeichen aus der Vergangenheit. Was habe ich wirklich gemeint? Entweder hat es in der Schweiz nie einen Underground gegeben oder es gab ihn früher als «dissidente Position zur offiziellen Öffentlichkeit». Mit letzterem bin ich einverstanden, ersteres wäre falsch.

Mit dem Projekt NONkONFORM habe ich mir kurz darauf – ab Mai 1991 – am Beispiel Berns selber zu beweisen begonnen, welche Bedeutung Kultur von unten phasenweise haben kann. Dass sie speziell in diesem Land seit dem Zweiten Weltkrieg «kaputt gemacht» worden wäre, lässt sich – wenn ich vom ökonomischen Steuerungsdruck des Marktes absehe – nicht belegen. Richtig ist eher, dass der Geist oftmals eher von unten weht. Und dass die offiziellen, repräsentativen Kulturformen stets dann als besonders hegemonial erscheinen, wenn von unten wenig autonome Impulse kommen, die signalisieren: Es gibt auch anderes, und es könnte auch ganz anders sein.

Allerdings habe ich für das Phänomen damals das Wort «Subkultur» verwendet. Der von der US-amerikanischen Beat-Bewegung geprägte Begriff «Underground» war zwar spätestens ab 1968 auch in der Schweiz geläufig, wurde aber von Zürich her in die Berner Subkultur eingeführt. Die erste Belegstelle für den Begriff «Untergrund» fand ich bei meinen Recherchen damals im Vorwort von Sergius Golowins Buch «Magische Gegenwart» (1964). Er sprach eindeutig von kulturellen Impulsen von unten – aber ebenso eindeutig ohne Bezug zur damals aktuellen US-amerikanischen Jugendbewegung: «Wie viele der Anregungen hat noch jede Kultur aus solchem dunklen Untergrunde geholt!» («Muellers Weg ins Paradies». Zürich [WoZ im Rotpunktverlag] 2001, S. 318f.)

(26.09.2017)

v11.5