An die Literarische Kommission der Stadt Bern

«1. März 1990

Lieber Herr Sekretär
Liebe Mitglieder der Städtischen Literaturkommission

In Ihrem Auftrag (ich vermute, auf einen Hinweis [des Kommissionsmitglieds, fl.] Guy Krneta) hat mich Frau Ammon als Mitarbeiterin der Abteilung für Kulturelles telefonisch um 3-4 Exemplare des – wie sie es nannte – ‘Anti-Buchs’ ‘Konvolut’ gebeten, damit die Kommission eine allfällige Unterstützung der Arbeit prüfen könne.

Die Anfrage der Literaturkommission hat mich überrascht und für einige Tage verunsichert, weil ich bis jetzt davon ausgegangen bin, staatliche Anteilnahme an literarischer Spracharbeit sei grundsätzlich ein Antragsdelikt ([das Kommissionsmitglied, fl.] Liliane Studer hat mich mittlerweile über diesen Irrtum aufgeklärt).

Ich teile Ihnen mit, dass ich eine ‘Konvolut’-Zusendung an die Literaturkommission für überflüssig halte, weil ich, abgesehen von Ihrem Urteil, das ich als in der Sache kompetentes respektieren würde, auf jedwede finanzielle Unterstützung Ihrerseits, sei es in Form eines Förderpreises oder eines Druckkostenbeitrags, verzichte.

Beim ‘Konvolut’ handelt es sich um eine Sammlung von vier Gedichtzyklen, die ich zwischen 1974 und 1987 verfasst, aber nie anders als in einigen fotokopierten Exemplaren verteilt habe. Im Sommer 1987 habe ich damit begonnen, sie elektronisch zu erfassen. Später hat sich Daniel von Rüti bereit erklärt, das ‘Konvolut’ zu gestalten und zu produzieren. Mein Auftrag an ihn, dessen Erscheinungsbild als Buch zu brechen, hat er gelöst, indem er mittels variierter Umschläge und eingeschobener Originaldrucke lauter ‘Unikate’ hergestellt hat.

Die am 22. Dezember 1989 von der Druckerei ‘Widerdruck’ Bern fertiggestellte, 252seitige Arbeit existiert in 520 Exemplaren. Die gesamte Produktion hat knapp 12’000 Franken gekostet. Die Distribution erfolgt nicht-öffentlich: Das ‘Konvolut’ ist nicht kaufbar, ich verteile es ‘an jene leute’, die ich für würdig befinde, ‘selbiges nach gutdünken zu lesen, weiterzugeben oder wegzuwerfen’ (vgl. ‘zum geleit’). Mittlerweile sind gut 280 Exemplare verteilt. Deren EmpfängerInnen sind mir namentlich vollständig bekannt. Von ‘Veröffentlichung’ zu sprechen wäre also zumindest problematisch.

Das ‘Konvolut’ bringt neben Gedichten auch Reflexionen über die lyrische Spracharbeit in Form von Aufsätzen. Darin postuliere ich unter anderem, es sei ungenügend, sich das Kunstprodukt zusammengesetzt aus Form und Inhalt zu denken, das Kunstprodukt sei nicht – oder nur aus der ästhetischen Perspektive der Herrschaft – abzukoppeln vom ‘Rahmen’, wobei mit ‘Rahmen’ Raum und Zeit, in dem das Kunstprodukt erscheint, gemeint sind. Im Weiteren schreibe ich dort, dass der Rahmen ‘massgeblich den sinn/die aussage des kunstprodukts’ bestimme, ‘und zwar unverhältnismässig stärker, als umgekehrt das kunstprodukt fähig ist, den sinn des rahmens umzudeuten’.

Insofern ich mich als Produzent eines Kunstprodukts verstehe, haben mich also nicht nur Form und Inhalt, das Wie und das Was meiner Arbeit zu interessieren, sondern auch Ort und Zeit, das Wo und das Wann. Das heisst: Obschon das ‘Konvolut’ gedruckt ist, also Form und Inhalt nun unveränderbar vorliegen, ist die Arbeit noch nicht abgeschlossen: Insofern ich via Distribution auf das Wo und das Wann Einfluss nehmen kann, habe ich auch weiterhin Einfluss auf die ästhetische Bedeutung der Arbeit.

Ich bin mit anderen Worten der Überzeugung, dass die Tatsache, ob die Städtische Literaturkommission das ‘Konvolut’ in irgendeiner Form mitfinanziert oder nicht, rückwirkend Sinn und Bedeutung der Texte (also das Wie und Was) mitbestimmen würde. Der Verfasser des ‘Konvoluts’ verzichtet hier und heute von vornherein darauf, für die Stadt Bern, in deren Auftrag Sie arbeiten, als Preis- oder Druckkostenbeitragsempfänger eine kulturpolitisch legitimatorische Funktion zu übernehmen, indem er seine Arbeit in die Reihe der städtisch geförderten Literaturproduktion stellen lässt.

Diese Argumentation ist sozusagen ‘Konvolut’-immanent, und ich habe sie hier als Anwalt meines, wie ich hoffe, unvernünftigen Projekts vorgetragen. Im Übrigen weise ich aus aktuellem Anlass darauf hin, dass mein Misstrauen gegen mich selber unerträglich anwachsen würde, setzte ich mich der Schizophrenie aus, mich für meine lyrische Spracharbeit einerseits staatlich prämieren zu lassen, während der gleiche Staat mich andererseits für meine journalistische Spracharbeit geheimdienstlich überwachen lässt: Die Bundesanwaltschaft fichiert mein berufliches Engagement bei der WoZ periodisch. Eine städtische Fiche existiert ebenfalls; ich werde sie in den nächsten Tagen einsehen.

Mit freundlichen Grüssen

fl

PS. Allen Mitgliedern der Literaturkommission biete ich ein Exemplar des ‘Konvoluts’ an, insofern sie sich als literaturkundige und zu solidarischer Kritik fähige Privatpersonen für ein solches interessieren.

Beilage: ‘zum geleit’, ‘Konvolut’ S. 5-8»

(01.03.1990; 08.09.2017; 19.06.2018)

 

Nachtrag

Niemand wird sagen, ich sei damals nicht konsequent gewesen. Wenn ich allerdings bedenke, dass ich einerseits später – zwischen 2001 und 2006 – selber Mitglied jener Literarischen Kommission der Stadt Bern gewesen bin und zwischen 1995 und 2015 unter meinem Namen sechs Bücher veröffentlicht habe, sind die Widersprüche gross.

Allerdings gebe ich mir zweierlei zu bedenken:

• Ich nahm das «Rahmen»-Argument einerseits auch in dem Sinn ernst, als ich als Verfasser des «Konvoluts» in einem ästhetischen Sinn Teil des Projekts sei und den Sinn des «Konvoluts» als Kunstwerk korrumpieren würde, falls ich nun aus opportunistisch finanziellen Gründen den «Dichter» gäbe (das Geld hätte ich wohl brauchen können). Andererseits war mir selbstverständlich klar, dass die Position des «Konvolut»-Lyrikers in der beruflichen Praxis zukünftig nicht haltbar sein würde. Immerhin ass ich seit bald neun Jahren als zumeist teilzeitlich angestellter WoZ-Redaktor ein relativ hartes Brot. Wenn ich damals nicht schlecht gelebt habe, dann auch wegen eines solidarischen sozialen Umfelds.

• Es ist aber auch so, dass ich hier nicht nur als Verfasser des «Konvoluts», sondern auch als bei der WoZ redaktionell Zuständiger für den «Kulturboykott» rede. Eben vierzehn Tage vorher hatte ich mit einem «Aufruf zum Schweigen» öffentlich in die Debatte eingegriffen um die Boykottierung der 700-Jahr-Feier der Schweiz. Dieser Aufruf hatte mit den pathetischen Worten geendet: «In den neunziger Jahren wird es Kulturschaffende geben, die mitgemacht haben, und solche, die nicht mitgemacht haben. Die letzteren werden die Stimmen sein der Anderen Schweiz.»

Dieses Pathos steckt auch im letzten Abschnitt des Briefes an die Kommission.

(08.09.2017; 19.06.2018)

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