Abgebrochener Briefwechsel mit Hans Saner

«[…] In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre habe ich in Basel, an der Scola cantorum basiliensis, Musik studiert. Diese Abteilung für alte Musik der Basler Musikakademie ist, wenn ich mich richtig erinnere, in den dreissiger Jahren von Paul Sacher gestiftet worden. Während meines Studiums hatte Sacher – Mäzen, Grossaktionär und Verwaltungsrat des Hofmann-La Roche-Konzerns – im ersten Stock der Scola nach wie vor ein eigenes Büro. Im Zuge meiner damaligen Politisierung (AKW-Bewegung, ‘Deutscher Herbst’) fand ich es zunehmend bemerkenswert, dass Sacher sein legendäres Musik-Mäzenatentum (Auftragswerke an Strawinsky, Bartók etc.) via Ehefrau mit Geldern des Hoffmann-La Roche-Konzerns finanziert hatte. Zunehmend bemerkenswert fand ich auch die Tatsache, dass er in der Scola nie ohne zwei Bodyguards auftauchte, die jeweils gelangweilt im Vorraum zu Sachers Privatbüro – der auch der Vorraum zum Sekretariat des Instituts war – herumlümmelten; verrutschte ihnen für Augenblicke der Kittel, wurden, so erinnere ich mich, ihre umgeschnallten Handfeuerwaffen sichtbar – ein Instrumentarium, das zwischen Lauten, Flöten und Schalmeien einigermassen auffiel.

Kurz: Musikbeflissen, wie ich damals zu sein hatte, besuchte ich einmal eine Aufführung von Beethovens 3. Symphonie im Casino [die ‘Eroica’, fl.]. Sacher dirigierte. Der Abend bescherte mir eine unlösbare Frage, nämlich: Wenn Beethoven diese Musik ursprünglich Napoleon Bonaparte gewidmet hat, wenn er diese Widmung später, als sich Napoleon hatte zum Kaiser krönen lassen, wütend über den ‘neuen Tyrannen’ aus der Partitur herausgerissen und mit dem Motto ersetzt hat: ‘Per festeggiare il sovvenire d‘un gran uomo’ – wäre dann diese Aufführung hier, unter der Leitung von Sacher, in Beethovens Sinn? Dann schärfer: War die Bedeutung dessen, was hier klang, überhaupt noch das von Beethoven Gemeinte, und wenn nicht plumperdings ja, was bedeutete das, was jetzt klang, anderes und warum?

Ich lernte: Bedeutet Beethovens Symphonie nichts als das Festgeschriebene, die Partitur, dann kann sie 1805 in Wien oder 1977 in Basel aufgeführt werden, unter Sacher oder unter sonstwem, mit diesen oder jenen MusikerInnen: Werden die Tonfolgen richtig reproduziert, werden die Vorgaben betreffend Tempo, Lautstärke und Phrasierung so ungefähr befolgt (wird die Symphonie also kunsthandwerklich einwandfrei auf Form und Inhalt reduziert), dann bedeutet das, was tönt, immer das gleiche.

Gehe ich jedoch davon aus, dass jedes Kunstwerk Kommunikation ist, also einen sozialen, kommunikativen Rahmen braucht, um überhaupt stattfinden zu können, dann bedeutet jede Aufführung eines Musikstücks als kommunikatives Ereignis etwas anderes. Daraus folgt: Die Bedeutung des Kunstwerks ist dem Wollen der Kunstschaffenden entzogen, weil der jeweilige Rahmen, das heisst jede neuerliche Aktualisierung der Arbeit, ihre Bedeutung neu bestimmt. Daraus folgt die Formulierung, deren ‘Härte’ Sie ‘für zu dogmatisch’ halten: Der Rahmen bestimmt die Bedeutung des Kunstwerks (und ist deshalb von jenen, die Kunst schaffen, soweit es in ihrer Macht steht, zu reflektieren. Kunst Verstorbener ist sozusagen verstorbene Kunst, die ich zur Belehrung zwar zur Kenntnis nehmen soll, nicht aber mit lebendiger Kunst verwechseln darf: Die Werke bedeuten nicht mehr das, was sie jener Person, die sie herstellte, bedeutet haben). […]»

(07.11.1990)

 

Nachtrag

 

 

1.

Dieser Fragment gebliebene Briefentwurf bildet das Ende eines kurzen Briefwechsels mit Hans Saner, der sich ergab, nachdem ich ihm am 29. Januar 1990 ein «Konvolut» hatte zukommen lassen. Saner bedankte sich am 30. Januar postwendend und erläuterte mir seine These zur Widerständigkeit von Poesie, nach der ich im Begleitbrief gefragt hatte, weil Saner kurz darauf in Biel zu diesem Thema sprechen wollte. Er schrieb:

«Meine These wird etwa lauten: Im Unterschied zu den gängigen Formen des Widerstandes: dem zivilen Ungehorsam, der Resistenz und der Renitenz, ist das Widerständische in der Poesie nicht primär eine politische Praxis, sondern eine gegenläufige Sprachpraxis. In diesem Sinn ist Poesie Widerstand, unabhängig von ihren Inhalten. Die Frage ist nun, welche Art der Sprachpraxis mit dem Wort ‘Poesie’ gemeint ist. Das soll im Vergleich mit der Wissenschafts- und vor allem mit der Werbesprache herausgearbeitet werden. Als Poesie bezeichne ich die Sprachpraxis, die nicht die Struktur der Zuhandenheit hat, die also nicht zu etwas gut ist oder dient oder etwas erreichen will. Sie ist der Mittel-Zweck-Relation nicht unterworfen. Damit ist sie aber auch Widerstand im Verhältnis zur allgemeinen Unterworfenheit des Daseins unter diese Relation. Poesie ist eine Gegenpraxis zur durchschnittlichen und allgemeinen Verzweckung und Vernutzung der Welt. Oder auch: sie wirkt, indem sie auf Wirkung verzichtet.»

 

2.

Am 9. Februar 1990 schrieb ich daraufhin an Saner:

«Wenn ich hier Ihre Zeit noch einmal in Anspruch nehme, so deshalb, weil ich zur Zeit in meinen ‘poetischen Reflexionen’ (im ‘Konvolut’ dokumentiert im ‘Geleit’-Wort und in den beiden Aufsätzen des Zyklus ‘1986’) ein wichtiges Problem nicht lösen kann. Da mir in diesem Punkt auch Ihre Ausführungen keinen Aufschluss gegeben haben, versuche ich hier kurz, das Problem zu skizzieren.

Wie ist die Tatsache zu bewerten, dass poetische Sprache, will sie im sozialen Raum überhaupt wahrgenommen werden, sich mit der real existierenden Welt in irgendeiner Weise einlassen muss? In meiner Auseinandersetzung fasse ich diesen Problemkreis mit dem Begriff ‘Rahmen’. Sie haben in Biel, wenn ich Sie richtig verstehe, eine ästhetik-immanente, ‘rahmenlose’ Argumentation vorgetragen: Poetische Sprache sei ‘subversive Praxis’; ihre Macht sei die Machtlosigkeit, ihre Widerständigkeit stecke in ihrer Absichtslosigkeit, darin, dass sie sich den Mittel-Zweck-Relationen der pragmatischen Welt grundsätzlich entziehe. Das ist eine schöne Argumentation, weil sie die PoetInnen von vornherein zu tragischen HeldInnen der Spracharbeit macht.

Jedoch sehe ich zwei Gegenargumente:

1. Ich zweifle grundsätzlich daran, dass verbale (oder andere) Kommunikation ausserhalb von Mittel-Zweck-Relationen überhaupt sinnvoll gedacht werden kann. Die Herstellung von poetischer Sprache ist für mich eine unter unendlich vielen möglichen kommunikativen Strategien, und zwar jene, die sich in grösstmöglicher Entfernung zu den aktuell hegemonialen Diskursströmen der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung konstituiert, um deren Absolutheitsansprüche nicht durch argumentatives Eingreifen, sondern durch die blosse Demonstration von Distanz in Frage zu stellen. Kein Mensch dichtet jedoch ‘absichtslos’ für die Natur oder für eine bessere Welt: Dass poetische Sprache es nicht auf realpolitische Wirkung oder kurzfristige ökonomische Vorteile abgesehen hat, entzieht sie noch nicht allen Mittel-Zweck-Relationen. Die kommunikative Strategie der Poesie ist auf die Akkumulation von kulturellem Kapital angelegt. Das Mittel der poetischen Sprache dient dem Zweck des moralischen Prestiges, das zu Lebzeiten umschlagen kann in Macht (siehe Václav Havel) oder posthum in Ruhm. Eine entscheidende Triebfeder für jede Anstrengung im Bereich der poetischen Spracharbeit ist deshalb die eigene Eitelkeit (die wiederum ihre nicht zu unterschätzenden Gründe hat). Im Sinne Ihrer Argumentation wäre in dieser Perspektive deshalb Sprache nur in dem Masse poetisch, in dem sie sich ihrer kommunikativen Funktion und der Distribution vollständig zu entziehen vermag. Poesie wären dann nur noch Hölderlins späte Jahreszeit-Gedichte, Wölflis Konvolute oder Walsers Spaziergänge mit Carl Seelig; also ausschliesslich Phänomene, die die psychiatrische Herrschaft längst als Teil des Syndroms ‘Schizophrenie’ pathologisiert hat (wer redet, ohne mit jemandem zu reden, gilt ihr als krank). Anders: Wer sich nicht in ‘Schizophrenie’ abgekoppelt hat, produziert in Ihrer Argumentation nicht Poesie, sondern eine Art verdeckte mittel-zweck-relationale Poesie-Simulation.

2. Aber gesetzt, es wäre innerhalb des poetischen Diskurses wirklich eine Sprache ausserhalb jeglicher Mittel-Zweck-Relation denkbar: So wird doch jeder poetische Versuch kontaminiert durch die Mittel und Zwecke, die den ‘Rahmen’ bestimmen, in dem der Versuch im sozialen Universum erscheint (die Begriffe ‘Veröffentlichung’ und ‘Öffentlichkeit’ stehen mir – als Poet, nicht als Journalist! – zurzeit nicht zur Verfügung). Jeder Verlag ist ökonomischen Zwängen unterworfen, für jede Lesung kassiert, wer dichtet, ein Honorar. So wird poetische Sprache zur Ware und, wer schreibt, zum Kleinkrämer, der seine nett ausgedachten Kunststückchen an einem bestimmten Anlass – zum Beispiel im Rahmen der 700-Jahr-Feier – feilbietet. Umgekehrt ist in der Praxis ein ‘rahmenloses’ Kunstprodukt gar nicht möglich. In diesem Punkt hebt für mich Ihre Argumentation denn auch ab. Mit viel Empathie kann ich zwar das hehre Wollen und Wünschen der PoesieproduzentInnen als ein Wirken ausserhalb der Mittel-Zweck-Relationen beschrieben, aber wie sollte ich bestreiten können, dass jede Poesie, insofern sie im sozialen Raum erscheint, von den ökonomischen und ideologischen Mittel-Zweck-Relationen des jeweiligen ‘Rahmens’ überlagert und vereinnahmt wird?

Vor dem Hintergrund dieser zwei Überlegungen möchte ich mein Problem noch einmal formulieren: Es gibt für mich einerseits eine ästhetische Argumentation – ich zähle die Ihre dazu –, die durch eine zu enge Fokussierung der Problematik zu (für mich) schiefen Schlüssen führt; und es gibt andererseits Argumentationen mit erweitertem Fokus – hierzu zähle ich den Einbezug des ‘Rahmen’-Arguments in die Diskussion –, die zwar zu (für mich) realistischeren Schlüssen führen, die aber keine ästhetischen mehr sind.

Der Rahmen, wie ich ihn im ‘Konvolut’ beschrieben habe, ist ja kein ästhetisches Argument, sondern ein ethischer Imperativ. Das Problem, wie ich es sehe, zur These zugespitzt: Meine Argumentation ergibt zwar richtige Schlüsse, ist aber falsch geführt (ich bin gezwungen, den Rahmen als werkimmanentes, innerästhetisches Kriterium zu sehen und damit auch das für ‘die gute Sache’ Produzierte und am richtigen Ort vorgetragene Gutgemeinte für Kunst zu halten); Ihre Argumentation ist zwar richtig geführt, ergibt aber falsche Schlüsse (die zweckfreie Poesie, die Sie postulieren, gibt es – innerhalb des literarischen Diskurses – nicht). Oder, verkürzt: Wie komme ich mit Ihrer Argumentation zu meinen Schlüssen?

Nach diesen Ausführungen werde ich nicht weiter darauf hinweisen müssen, dass meine ‘poetischen Reflexionen’, die ich seit einigen Jahren verstärkt vorantreibe, ein weitestgehend autodidaktisches Projekt sind (und ein notorischer Monolog). Insofern war die Produktion des ‘Konvoluts’ für mich mit der Hoffnung verbunden, durch diese Form der nicht-öffentlichen Veröffentlichung (analog einer konzertanten Opernaufführung handelt es sich dabei um eine ‘diskutante Publikation’) auf jene Gegenargumente zu stossen, die meine Argumentation weiterbringen.»

 

3.

Hans Saner antwortete mir am 26. September 1990 wie folgt:

«Lieber Herr Lerch,

ich habe Ihren Brief vom 9. II. noch nicht beantwortet, obwohl er mich interessiert. Der Grund meines Zögerns ist: Ich weiss nicht sicher, ob ich Ihre Rahmen-Theorie richtig verstehe. Sollte sie nur bedeuten, dass wir nicht im Himmel sind, wenn wir ‘dichten’, und nicht auf dem Mars, sondern eben an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, dann hielte ich das zwar für richtig, aber unergiebig, weil selbstverständlich. Vermutlich meinen Sie nicht bloss das In-Sein in diesem geschichtlichen Umfeld, sondern die unweigerliche Bezüglichkeit unserer selbst und all unseren Handelns, damit auch des Dichtens, auf dieses Umfeld. So jedenfalls habe ich Ihre Aussage verstanden, ‘dass poetische Sprache […] sich mit der real existierenden Welt in irgendeiner Weise einlassen muss’. Auch damit, wenn es bei ‘irgendeiner Weise’ bleibt, bin ich noch einverstanden.

Die Frage ist nun, ob all diese Bezüge und mithin alle Relationen zum Welt-Sein definiert werden müssen als Mittel-Zweck-Relationen. Wenn es andere nicht gäbe, dürften wir es wohl für gesichert annehmen, dass der Umgang mit Sprache, die ja Welt repräsentiert, sich auch an die Mittel-Zweck-Relationen ganz und gar binden müsste.

Nun ist die besondere Schwierigkeit die, dass wir jeder Relation ein Um … zu hypostasieren können, um sie zu verstehen. Das bedeutet: In einer pragmatischen Welt, in der die Dinge vorerst die Struktur der ‘Zuhandenheit’ (Heidegger) zu haben scheinen, wird alles in der Vernetzung Mittel-Zweck gesehen, und zwar so, dass ein Jedes mehrfach Zweck untergeordneter Mittel ist und Mittel für übergeordnete Zwecke. In dieser Vernetzung ist so etwas wie ein Endzweck nicht sichtbar und Zweckfreiheit gar nicht gesucht.

Diese Art, Welt zu verstehen, erinnert stark an eine andere, deren Relationen nicht durch das Mittel-Zweck-Modell, sondern durch das Ursache-Wirkungs-Modell erklärt werden. Auch hier gibt es die Möglichkeit einer mehrfachen Vernetzung von Ursachen und Wirkungen, in der alles als Wirkung von Ursachen und ein Jedes als Ursache für neue Wirkungen erscheint. In dieser Vernetzung ist so etwas wie eine letzte Ursache oder eine letzte Wirkung nicht zu finden – und die Ursachen- und Wirkungslosigkeit wird erst gar nicht gesucht.

Damit haben Sie bereits zwei Relations-Welten: eine kausale und eine finale, und beide scheinen ganz und gar geschlossen zu sein. Diese Geschlossenheit könnte man entweder einen kausalen oder einen finalen Determinismus nennen.

Nun gibt es eine Kritik der Finalität, etwa im Naturbereich, spätestens seit Kant. Finalität ist nicht eine Eigenschaft des Seienden, sondern eine Relation, die der Mensch dem Seienden hinzudenkt, es also betrachtet, als ob es final organisiert wäre. Da er das zwecksetzende Wesen ist, vermag er alles so zu denken, obwohl ihn auch nichts geradezu dazu zwingt.

Eine Kritik der Kausalität gibt es erst seit der Quantentheorie. Zumindest im Mikrobereich ist die Geltung des Ursache-Wirkungs-Prinzips eine Frage der Statistik. Einigen Naturwissenschaftlern (z. B. Einstein) hat das Mühe gemacht (‘Gott würfelt nicht’). Ebenso macht es Menschen Mühe, die Nicht-Finalität zwar nicht des Seienden, aber doch des menschlichen Tuns, anzunehmen. So wie man niemanden dazu zwingen kann, seinen Determinismus aufzugeben (obwohl das heute alle namhaften Naturwissenschaftler in einer gemässigten Weise tun), so kann man niemanden dazu zwingen, den Finalismus aufzugeben, es sei denn mit einer kleinen logischen List. Man könnte ihm nämlich vorschlagen, dass, um ‘Zweckhaftigkeit’ denken zu können, wir logisch den Gegenbegriff der Zweckfreiheit brauchen (was stimmt und nicht ganz stimmt). Um diese[s] Um … zu willen, dem er ja so anhängt, könnte man ihn vermutlich verführen, einen Begriff zu akzeptieren, dessen Inhalt gerade besagt, dass es ein Um … zu unter Umständen nicht gibt. Damit er einverstanden sein kann, könnte man ihm auch sagen: Die Zweckhaftigkeit ist lediglich eine Hypothese oder eine Idee. Das wiederum ist sie notwendigerweise, weil in der Mittel-Zweck-Vernetzung sich alles nur in dieser Relation erkennen lässt und nichts durch die Abwesenheit dieser Relation.

Also: Falls Sie zugestehen, dass es einen guten Sinn hat, die Hypothese der Zweckfreiheit zu machen, u. a. weil sie uns hilft, die Zweckhaftigkeit besser zu verstehen, so darf ich fragen, wozu (und auch dies ist eine pragmatische Frage) die Hypothese der Zweckfreiheit denn sonst auch dienen könnte.

Ich sage nun: zum Verständnis gewisser Texte, Ton- und Klangreihen, Farb- und Formkonstellationen, die in der pragmatischen Welt sonst für unsinnig gehalten werden müssten.

Z. B.

‘Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst Du nur das Zauberwort.’

Natürlich kann man sagen: Der Dichter[1] hat das nur gemacht, um berühmt zu werden, ein Honorar einzustreichen oder an einem Bankett vorteilhaft aufzufallen. Das trifft vielleicht [seine] Motivation als Person. Welchem Zweck aber huldigen [seine] Verse? Wofür werben sie? – Ich wüsste es jedenfalls nicht.

Kunstwerke, die so sprechen, nenne ich poetisch und diese Art der Kunst Poesie. Ich sage keineswegs: Alle Gedichte sind Poesie. Ich vermute, dass es keinen einzigen zweckfreien Roman gibt, wohl aber poetische Passagen in vielen Romanen. Das Poetische ist eine Kategorie innerhalb des Künstlerischen und nicht identisch mit diesem selber. An ihm hat mich etwas besonders interessiert, nämlich Sprache, die für nichts mehr wirbt, also nicht an die Mittel-Zweck-Relation gebunden werden kann, und die zugleich mit der Ursache-Wirkungs-Relation (Wissenschaftssprache) kaum mehr etwas zu tun hat, also Sprache, die primär rhythmischer, klanglicher, formaler Art ist, die wirkt, ohne etwas zu bewirken.

Wenn Sie nun in Ihrer Rahmen-Theorie zum Befund kommen, dass der Rahmen schon die Qualität des ‘Gerahmten’ (des Werks) bestimmt, so halte ich das in dieser Härte für zu dogmatisch. Es ist eine Umkehrung der Basis-Überbau-Relation, die, wie es oft im Diamat geschehen ist, die Dialektik zwischen den beiden ausschliesst. Etwas daran ist aber wahr – und dieses darf man nicht wieder verlieren. Ich wiederum würde lediglich sagen: Es gibt auch nicht verzweckte oder zweckhafte Kunst, aber niemals: Alle Kunst ist zweckfrei.

Dass die zweckhafte Kunst gesellschaftlich nützlicher ist, versteht sich von selbst: politisch, emanzipatorisch und in jeder Weise. Mich hat aber das Nutzlose und das Machtlose interessiert. Mit ihm kann man nichts erreichen, aber etwas anfangen.

Mit einem schönen Gruss,

Ihr

Hans Saner»

[1] Saner schreibt hier irrtümlicherweise «die Dichterin», der Vierzeiler stammt aber von Joseph Freiherr von Eichendorff.

 

4.

Auf diesen Brief versuchte ich am 7. November 1990 zu antworten, kam aber nicht über das vorangestellte Fragment des Werkstücks hinaus. Ich erinnere mich daran, dass ich mich von Saners Brief theoretisch überfordert fühlte und dass ich mich darüber ärgerte, in einer Pointe seiner Ausführungen eines undialektischen Dialektischen Materialismus (Diamat) überführt zu werden. (Obschon Saner darin selbstverständlich Recht hatte.)

 (1990; 19.03.1998; 21.09.2017)

v11.5