Eine menschgemässe Vernunft ist gesellschaftlich nicht praktikabel, weil sie sich in den Dienst der Interessen der vielen gegen die wenigen stellt. Eine gesellschaftlich praktikable Vernunft ist nicht menschgemäss, weil sie das Herrschaftsinstrument der wenigen über die vielen ist. Die praktikable Vernunft bringt die Welt zum Funktionieren, die menschgemässe bringt in aller Regel bloss den Kopf zum Zweifeln.
In der Logik der menschgemässen Vernunft wird in letzter Konsequenz dem Menschen die gesellschaftliche Struktur geopfert; gesellschaftlich praktikable Vernunft fordert umgekehrt in letzter Konsequenz das Menschenopfer. Diese zwei Perspektiven stehen sich gegenüber als «instrumentelle» und, meinetwegen, «fundamentalistische» Vernunft.
Den Antagonismus zwischen den beiden Vernünften aufheben zu wollen in einer «ganzen» Vernunft, die als «prinzipiell unabschliessbarer kritischer Diskurs» gefasst wird und die «die Permanenz der Kritik und die Unabschliessbarkeit des Zweifels» beinhalte[1], ist, befürchte ich, keine aufklärerische Leistung, sondern Augenwischerei: In der Praxis muss sich Vernunft im öffentlichen Raum zuerst durchsetzen, sonst ist sie keine. Darum ist Vernunft im öffentlichen Raum von vornherein praktikable Vernunft, also instrumentelle.
[1] Thomas Meyer: Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne. Reinbek/Hamburg (rororo) 1989, S. 31.
(17.7.1989; 08.10.2017; 15.06.2018)
In den Diskussionen auf der WoZ galten bis zu meinem Austritt aus der Produktionsgenossenschaft Ende 2001 Argumentationen, die mit gesellschaftlich praktikabler Vernunft operierten, als «politisch», solche, die der Logik menschgemässer Vernunft verpflichtet waren, als «moralisch». Es stimmt, dass sich mit einer Vernunft «von unten» nicht politisieren lässt, weder von rechts noch von links. Wenn sich Vernunft «von unten» in den politischen Diskurs einmischt, liefert sie bis zum Ärgernis immer nur Gegenargumente im Sinn von «Du hast auch nicht recht».
Politisch ungeschult hielt ich langezeit meine moralische Empörung für eine politische Perspektive. Darum machte ich auf der WoZ zu lange und zu oft den pubertären Stänkerer am Stammtisch der Erwachsenen. Heute weiss ich: Zwar kann die gesellschaftlich praktikable Vernunft – die politische «von oben» – jene andere, die menschgemässe, moralische «von unten» für mich nicht widerlegen. Aber die praktikable Vernunft ist der menschgemässen überlegen in allen realpolitischen Zusammenhängen, weil sie auf eine von vornherein intentierte Praxis und nicht auf ein Ideal hin vernünftig argumentiert. Das ist auch im Tagesgeschäft eines Betriebs, zum Beispiel in einer alternativen Zeitung, so.
(07.2007; 08.10.2017)