Horizontale und vertikale Vernunft

Leute der Praxis beobachten, dass es eine aufgeklärte und aufklärende Vernunft nicht gibt, dass ihre behauptete Universalität zurückgenommen werden muss zugunsten des Arguments, dass Vernunft das Projekt eines eurozentristischen, «aufgeklärten» Willens zur Herrschaft sei. Jean Ziegler zum Beispiel differenziert horizontal, wenn er sagt, es sei falsch, die «europäische Regionalvernunft» zu «universalisieren»: «Wir steuern auf eine Welt zu, wo die Universalität der Vernunft, die in Wirklichkeit nur eine Kolonialprojektion ist, aufgelöst wird. Für uns ist die Aufklärung ein Weg, für andere Völker aber nicht, sie haben, wie Lévi-Strauss sagt, das Wilde Denken. So wie wir anstreben müssen, dass der Weltmarkt in autarke, regionale Entwicklungszentren zerfällt, müssen wir uns auch die Entwicklung von Regionalvernunft zum Ziel setzen.»[1]

In seiner Auseinandersetzung mit dem «Benennungszwang der Psychiatrie», der zur «sprachlichen Ausgrenzung von Menschen» führe, beschreibt der Psychotherapeut Hans Luger die performative Gewalt des «vernünftigen» Redens so: «Je mehr die Dinge dieser Welt auf den ‘Begriff’ gebracht sind, desto weniger ängstigt das Ungewisse. Die Vernunft hält die Rätsel der Welt in Schach, verkürzt die komplexe Wirklichkeit auf die Welt der Begriffe, macht sie handhabbar.»[2] Daraus leitet er eine vertikale Differenzierung ab, indem er präzis das Scheitern der Vernunft «von unten» in der Praxis beschriebt als magisches Denken mancher PatientInnen, die «verzweifelt versuchen, durch Hin- und Her-Jonglieren mit Begriffen, mit Begriffsneubildungen, mit dem Aufbauen neuer Welten durch Worte, an der untrüglichen Wirklichkeit etwas zu drehen und auf sie Einfluss zu nehmen – vergebens, denn die Welt ändert sich nur, wenn man in ihr möglichst geschickt handelt.»[3] Die individuelle Behauptung einer eigenen Vernunft von unten ist gleichzeitig eine Definition von Unvernunft, respektive, bei sozial auffälligen Menschen, von Formen psychischer Krankheit.

Diese praxisnahen Beobachtungen von horizontalen und vertikalen Ausdifferenzierungen und Brüchen im «Vernunft»-Begriff sind aber kein Argument im philosophischen Diskurs um die eine und unteilbare Vernunft, die sich als universeller Diskurs dekretiert, der alle Geltungsansprüche begründungspflichtig macht. Ist eine Position «fundamental» vernunftkritisch, sagt Thomas Meyer, gebe es «kein[en] Weg mehr zur Rettung des wirklichen Erbes der Aufklärung».[4]

So ziele zum Beispiel Adornos zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft aufgespannte Vernunftkritik «ins Herz der Aufklärung selbst»: «Sie misstraut der Vernunft prinzipiell als der anderen Form gesellschaftlicher Herrschaft über das unsagbare Individuelle, das allein Freiheit und Glück bedeute.» Auch Foucaults zwischen Herrschaft und Beherrschten aufgespannte «radikale Vernunft- und Diskurskritik», «die auch im aufgeklärtesten Argument nichts anderes mehr erkennen kann als die stets wechselnde Maske der immergleichen Macht, die alles lenkt und prägt oder bannt und vernichtet, was sich im gesellschaftlichen Leben an individuellen Regungen hervorwagen mag», sei für die Aufklärung nicht zu retten.

Das Dilemma des Politikwissenschaftlers Thomas Meyer – dieses Grashüters der Begriffe «Aufklärung» und «Vernunft» – besteht darin, dass er Aufklärung nur denken kann auf der Basis eines universellen «aufgeklärten» Systems von Werten und Normen, das als Ganzes «Vernunft» bedeutet. Bloss: Diese «Vernunft» ereignet sich nicht schicksalshaft wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Sie muss gemacht, behauptet und gesellschaftlich durchsetzt werden.

«Vernunft» muss sich also mit der Macht gemein machen, sonst ist sie keine. Andererseits: Wie anders als so kann der Aufklärung zu einer praktischen Wirkung verholfen werden? Und noch einmal andererseits: Was unterscheidet dann «Vernunft» vom Willen jener, die die Macht ausüben?

[1] Interview mit Jean Ziegler, in: «Konkret» Nr. 7/1989.

[2] Hans Luger: KommRum. Bonn (Psychiatrie-Verlag) 1989, S. 7 + 95.

[3] Luger a.a.O., 87.

[4] Hier und im Folgenden: Thomas Meyer: Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne. Reinbek/Hamburg (rororo) 1989, S. 55f.

(18.07.1989; 07.1997; 08.10.2017)

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