Die heillose Alternative

Der fundamentale Irrtum ungebrochen optimistischer, aufklärerischer Spracharbeit besteht in der Annahme, Aufklärung sei ein sprachimmanentes Problem – wenn «es» gesagt sei, sei die Aufklärung geschehen, und wenn sie trotzdem nicht Wirkung zeige, sei das gegenaufklärerischer Propaganda oder der vernagelten Renitenz der Aufzuklärenden zuzuschreiben.

Die Wirklichkeit sieht jedoch so aus: Jene, die Aufklärung mittels Sprache zu betreiben vermeinen, werden hier und heute nicht zum Schweigen gebracht, sondern im Gegenteil durch die Marktmechanismen einer nahezu brotlosen Publizistik angetrieben zu immer grösserem Ausstoss an aufklärender Spracharbeit. Gleichzeitig werden sie durch diesen Produktionsdruck ferngehalten von jeder anderen gesellschaftlich relevanten Praxis. Wirkungsvoll wäre Aufklärung aber erst im Aufeinandertreffen und Zusammengehen von aufklärerischer Sprache mit möglichst vielen und verschiedenartigen gesellschaftlich relevanten Praxen.

Die Kunst jeder Herrschaft, deren Macht stets im gegenaufklärerischen Stillstand wurzelt, ist es, die aufklärerische Sprache in die reine Negation des Widerspruchs zu treiben und dort zu ghettoisieren als Art pour l’art der Kritik, die in den ästhetisch originelleren Ausformulierungen durchaus als «Kunst» salonfähig gemacht werden darf. Hauptsache, sie wirkt nicht.

Indem kritische Intellektuelle heute auch hierzulande die Aufklärung mit Ach und Krach als praxislose Negation zu verteidigen vermögen, heben sie sie gleichzeitig auf. Sie können nichts anderes tun, als Aufklärung dort zu behaupten und zu verteidigen, wo sie nicht wirksam werden kann: in den Nischen bildungsprivilegierter Verbalradikalität (zum Beispiel hier in diesem Werkstück).

Solange Herrschaft die Kraft und die Mittel hat, die Alternative: Aufklärung oder Praxis zu diktieren, solange gibt es keine aufgeklärte Praxis. Also nichts als Schöngedrechseltes, das von den intellektuellen Überlebensübungen innerer Emigration nicht zu unterscheiden ist.

Die Sehnsucht nach einem neuerlichen Zusammengehen von Aufklärung und Praxis könnte der Grund sein, weshalb nicht wenige Linke sich zurzeit vermehrt an der Sowjetunion zu orientieren beginnen. Gorbatschow als Hoffnungsträger.

(12.06.1989; 10.10.2017; 22.02.+01.03.2018)

 

Nachtrag

Am Tag, nachdem ich dieses Werkstück redigiert und hochgeladen habe, lese ich ein Interview mit dem Sozialethiker Hans Ruh (* 1933), der als Theologe bei Karl Barth dissertiert hat. Unter anderem kommt er auf die Aufklärung zu sprechen und bezeichnet sie als «eine rein intellektuelle Angelegenheit», Aufklärung sei «eine Aufklärung des Bildungsbürgertums» geblieben. Die Entfremdung von «Elite und Volk» – Begriffe des Interviewers Bernhard Ott – sei «ein Hauptaspekt des Scheiterns der Aufklärung. Die bildungsbürgerliche und finanzpolitische Elite, zu der ich auch gehöre, hat bis vor kurzem das Volk vergessen.» (Bund, 07.10.2017) Damit bestätigt er das Dilemma, das ich im Werkstück zu beschreiben versucht habe.

Allerdings meine ich nicht, dass die Aufklärung «das Volk» vergessen habe. Insbesondere die Geschichte der Arbeiterbewegung beweist für mich, dass Aufklärung mit dem und für «das Volk» Bedeutendes geleistet hat. Mein Werkstück entstand im Juni 1989, drei Monate, nachdem ich im Rahmen der Recherche für eine Reportage im Keller eines Wohnblocks in Derendingen vor der «vergessene[n] Handbibliothek der Gewerkschaftssektion» gestanden war (siehe hier, Teil III, Abschnitt 3). Die Frage, vor die ich mich dort gestellt sah: Warum ging nach dem Zweiten Weltkrieg das Interesse an zweifellos aufklärerischer Spracharbeit – von Marx, Bebel, Kautsky und Sinclair, Lagerlöf, Traven bis zu Gerter, Loosli und Bührer – innert weniger Jahre verloren?

Eine Antwort finde ich schon auf den ersten Seiten meiner aktuellen Nachttischlektüre. In seinem Buch über die Abstiegsgesellschaft spricht der Wirtschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey in Bezug auf die «soziale Moderne» nach dem Zweiten Weltkrieg von einer «materielle[n], lebensweltliche[n] und letztendlich auch mentale[n] Entproletarisierung» der Arbeiterschaft: «Der kollektive Erfolg der Arbeiterbewegung führte paradoxerweise zur Entstehung neuer, individualistischer Handlungsweisen.»[1]

Der Druck, den der Ostblock im Kalten Krieg auf die kapitalistischen Staaten im Westen auszuüben vermocht hatte, ermöglichte eben nicht nur sozialen Fortschritt, sondern führte auch zum Niedergang der Arbeiterbewegung und deren Bewusstsein, dass die existenziellen Risiken der Lohnabhängigkeit nur gemeinsam unter Kontrolle gehalten werden können. Wenige Monate, nachdem ich mein Werkstück geschrieben hatte, war der Kalte Krieg zu Ende und die Neue Weltordnung des neoliberalen Kapitalismus begann vom Ende der Geschichte zu träumen. Seither ist die Aufklärung nicht mehr aus den Nischen bildungsprivilegierter Verbalradikalität herausgekommen.

[1] Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2016, S. 29 + 32.

(08./10.10.2017; 14.06.2018)

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