Wie stark kann eine Utopie wachsen?

Ausser vom Oktober 1982 bis Ende 1984, als ich meinen Platz an der Scharnierstelle zwischen Inland- und Kulturredaktion auf der WoZ-Redaktion in Zürich hatte, arbeitete ich in der WoZ-Redaktionsstelle Bern (zusammen mit uf, später auch mit mjk, noch später mit jw). Klar war man von Bern her fast jeden Donnerstag an den Planungssitzungen und im Turnus absolvierte auch ich «Sitzredaktionen» und arbeitete dann eine Woche lang als Verantwortlicher des ersten Zeitungsbunds auf der Zürcher Redaktion (täglich passierte ich in diesen Wochen im Zug die «Heimathieroglyphe»). Trotzdem waren die Aussenstellen – neben jener in Bern gab es auch eine in Basel – sehr am Rand, wenn es um das Ideal der basisdemokratisch funktionierenden Selbstverwaltung innerhalb der Produktionsgenossenschaft infolink ging, der Herausgeberin der WoZ. Ein Schlaglicht auf diese Stellung wirft das Diskussionspapier «Einige Gedanken zur Redaktionsstelle Bern und zugehörigem Hauptsitz der WoZ aus Anlass des Warnstreiks von uf im November 1987».

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«Klar ist, dass die infolink-Genossenschaft als Zeitungsherausgeberin immer arbeitsteiliger funktioniert. Weniger klar sind die sich daraus ergebenden Folgen, die unterschätzt resp. tabuisiert werden: Arbeitsteilung schafft informelle Hierarchisierung. Die unterschiedliche Informiertheit schafft unterschiedliche Entscheidungskompetenzen (nach dem Abgang von uz ist zum Beispiel auf der WoZ-Redaktion in unternehmenspolitischen und ökonomischen Fragen niemand mehr sehr kompetent).

Jede personelle Vergrösserung des Produktionsapparates hat die Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung und die Verschärfung der informellen Hierarchisierung zur Folge. Bereits heute ist der basisdemokratische Aspekt des Selbstverwaltungsmodells weitgehend aufgegeben: Die Entscheide werden nicht mehr im Diskurs des Plenums, sondern in Arbeitsgruppen oder in den verschiedenen Abteilungen des Betriebs spruchreif vorbereitet. Bereits für einen Betrieb mit 2 Millionen Franken Umsatz ist ein Plenum als Entscheidungsfindungsinstanz nicht mehr tauglich, weil zu unbeweglich, zu zeit- und zu kostenintensiv.

EXKURS (in einige ketzerische Fragen mündend): Selbstverwaltung heisst deshalb bei der WoZ heute, dass sich ein grundsätzlich kapitalistischer Produktionsbetrieb den Luxus von lohndrückenden Organisationsstrukturen leistet, die sich aus einem unübersehbaren Gestrüpp von ineffizienten Abläufen, informellen Absprachen, emotionalen Präferenzen, abgeschotteten Teilautonomien und alternativen Unfähigkeiten zusammensetzen. Bereits die heutige Grösse des Apparates hat meine Utopie des Betriebs weitgehend widerlegt. In einem meiner gefürchteten hypermoralischen Papers aus der Anfangszeit der WoZ («modell 0-wachstum», zum Obbort-Seminar vom 1./2.10.1983 [verschollen, fl.]) formulierte ich noch meine Hoffnung, dass die WoZ als Apparat etwas anderes sein müsste als ein schlecht organisierter kapitalistischer Betrieb, nämlich eine Art ökonomisch abgestützte, sozialistische Insel: ‘für mich hat die WoZ nicht nur inhaltlich den anspruch, systemverändernd zu wirken, sondern auch – soweit das halt trotz aller widersprüche geht – als betrieb. die WoZ muss heute so funktionieren, wie betriebe nach unserer utopie eben funktionieren müssten. insofern wichtig: das vorbildhafte als perspektive.’ (Schweigeminute.) Nach einer ent-täuschten Illusion deshalb einige richtige Fragen: Wenn die WoZ schon ein kapitalistischer Betrieb ist, weshalb nicht mindestens ein effizienter? Wieso eigentlich nicht Effizienzsteigerung (= weniger Leute = mehr Lohn) über strukturelle Hierarchisierung? Wieso eigentlich nach wie vor gleicher Lohn für alle, wenn diese Maxime für eine längst gescheiterte Utopie steht? Wenn diese Fragen aber doch falsch sind: Wer von der WoZ wagt heute noch zu formulieren, was die WoZ anderes sei als ein ineffizienter kapitalistischer Betrieb? (An dieser Stelle ist es dem EXKURS verleidet weiterzufragen. Eigentlich schade.)

Zurzeit noch weitgehend tabuisiert ist die Tatsache der zunehmenden Arbeitsteilung innerhalb der Redaktion. Für die Redaktionsstelle Bern bedeutet dies, dass wir erstens im Bereich Journalismus und Redaktion gleich funktionieren, wie RedaktorInnen in Zürich (allerdings redigieren wir weniger, aber wir schreiben mehr); dass wir zweitens den Bereich Büroadministration, Buchhaltung, Strassenverkauf und MitarbeiterInnenbetreuung nebenher erledigen und dass wir drittens versuchen, dem Verlangen der Zürcher Redaktion nach vermehrter Integration in den Bereichen Produktion und Sitzungspräsenz nachzukommen (Detail: Der Reiseweg vom Büro Bern ins Büro Zürich und retour beträgt mit öffentlichen Verkehrsmitteln knapp dreieinhalb Stunden).

Da eine Arbeitsteilung offiziell nicht existiert und die Ansprüche an uns in Bern in allen drei Bereichen tendenziell steigen (nicht vergessen: Wir versuchen sozusagen mit aller Gewalt, unsere Firma am Wachsen zu halten!), wird unsere Arbeit strukturell zunehmend unbefriedigend. Trotz Teilzeitanstellungen rennen wir mit schlechtem Gewissen dauernd unerfüllbaren Forderungen hinterher. Die Arbeit in den Aussenstellen wird so lange unbefriedigend bleiben, wie in Zürich nicht anerkannt wird, dass die Aussenstellen-Arbeit bei teilweise gleichen Arbeitsbereichen strukturell eine andere ist als jene in Zürich.

Dieses Problem kann nicht auf der Ebene von gegenseitigen Vorurteilen gelöst werden. Es genügt nicht, in Zürich zu sagen, die in Bern machten ja keine Zeitung, also würden sie eine ruhige Kugel schieben, also könnten sie bei etwas gutem Willen auch noch dies und das machen. Umgekehrt genügt es in Bern nicht festzustellen, die in Zürich hätten immer und überall einen uneinholbaren Informationsvorsprung, wir würden immer den Infos hinterherrennen und hätten trotzdem weniger zu sagen. Und ich erachte es als für die WoZ verhängnisvoll, wenn man sich aus diesem Dilemma zu lösen versucht, indem man – wie die Basler Redaktionsstelle zurzeit – eine eigene Zeitung und redaktionelle Autonomie fordert.

Ich schlage deshalb vor, dass in Bezug auf die Redaktionsstelle Bern folgende Fragen diskutiert werden:

• Wozu braucht die WoZ eine Redaktionsstelle Bern? (Pflichtenheft)

• Wie viele Leute à wie viele Lohnprozente sind für diese Arbeit nötig?

• Wie kann die geforderte Arbeit strukturell befriedigend getan werden?

EXKURS II (Jetzt sind mir gerade noch ein paar Fragen eingefallen.) Gut, 0-Wachstum ist ein moralischer Hirnwix, wir müssen wachsen wollen (Basel-EXTRA), es ist ja für einen guten Zweck, deshalb 4. Bund, 5. Bund, 6.Bund; je grösser die Zeitung, desto Einfluss, desto Revolutionundsoweiter, ja, ja.

Aber: Gibt es hier und heute überhaupt noch eine aufklärbare Öffentlichkeit? Ist, wer allenfalls noch aufklärbar ist in dieser Gesellschaft, noch Bestandteil der herrschenden Öffentlichkeit? Woraus genau schliesst das die Wachstumsfraktion der WoZ? Dazu: Mit welchem Aufklärungsbegriff operieren wir? Ist mit unserer notgedrungen gnadenlos instrumentellen Vernunft, die wir in der WoZ tagtäglich an uns und der LeserInnenschaft praktizieren (es gibt ja nur eine Vernunft, die in der herrschenden Ökonomie überleben kann), Aufklärung noch möglich? Wozu soll eine solche Aufklärung gut sein? Woraus schliessen wir – abgesehen von der redaktionellen Planungs- und Entscheidungsschwäche –, dass es eine grössere WoZ überhaupt braucht (das ist halt immer die gleiche Frage, exgüsi)? Sollten wir nicht mindestens in der internen Diskussion dazu stehen, dass es bei weiterem Wachstum (= mehr Arbeitsteilung = mehr informelle Hierarchisierung = weniger Basisdemokratie = weniger Utopie etc.) mindestens auch um mehr Sozialprestige und mehr Lohn geht? Ist aber unsere gesammelte Eitelkeit inkl. unsere steigenden materiellen Bedürfnisse bereits eine aufklärerische Leistung? (Wenn ja: inwiefern?) Findet ihr nicht auch, dass wir uns viel zu schlecht bezahlen, um ohne jede Utopie freudig weiterzuwerkeln? Wollen wir nicht einmal ein Seminar machen zum Thema ‘Die WoZ als meine Utopie‘? Oder eines über ‘Ausbau, Effizienzsteigerung, Hierarchisierung und Lohnerhöhung: Die WoZ der 90er Jahre’? (An dieser Stelle danke ich für die Aufmerksamkeit: Das war mein Letztes aus dem Jahr 87.)

fl

9.12.87)»

(09.12.1987; 28.08.2017; 02.06.2018)

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