Tage voller Galle

1.

Vor zehn Jahren stellten wir uns in den Dienst einer Weltanschauung, prüften ihre Stichhaltigkeit an der vorfindbaren Wirklichkeit und verhalfen ihr schreibend zu ihrem Recht, soweit es in unserer Macht stand.

Heute steht die Weltanschauung in unserem Dienst als Vorwand, die hierzulande vernachlässigte Marktlücke Sozialkritik geldbringend zu füllen. Die Dialektik zwischen dem Willen, unsere sozialkritischen Inhalte zu verbreiten und der Notwendigkeit, diese Inhalte verkaufen zu müssen, um leben zu können, ist gekippt zuungunsten der Inhalte. Heute produzieren wir sozialkritische Inhalte, weil und insofern wir sie verkaufen können. Sozialkritik wird für die WoZ zunehmend zu einem Produkt, wie Zahnpasta ein Produkt ist, und ihre Qualität entscheidet sich zunehmend am Markt: Gut ist, was sich absetzen lässt.

Diese Verschiebung ist nicht eine grundsätzliche Veränderung von heute auf morgen, kein einmaliger Plenumsentscheid, keine geplante Geschäftspolitik. Die – vermutlich alles in allem «sozialistische» – Utopie der WoZ ist abhandengekommen: wie der Blick aufs Hochgebirge, der Orientierung gab im abschüssigen Hang. Man war ja immerzu voll damit beschäftigt, bergauf zu gehen und stand doch allzuoft am nächsten Morgen einen Meter tiefer im Hang als am Vortag.

Unterdessen fällt das Bergaufgehen langsam schwerer und man sieht seine Notwendigkeit nicht mehr so genau ein: Rückwärtsgehend ist man nun auf die ersten fetten Wiesen abgestiegen. Das Hochgebirge hat man im Rücken gelassen, und schon wird man bibelgläubiger: Wer hinter sich sieht, wird zur Salzsäule.

2.

Jahrelang liess ich mich gerne zur Schaufel machen, später fühlte ich mich ungerecht behandelt, als mir schien, ich würde mehr als andere in die Scheisse gestossen. Jetzt, da ich nicht mehr Schaufel sein will, werde ich jenen, die mich brauchten, fremd. Und mir selber auch: Was soll aus einem sonst noch werden, der doch eine Schaufel geworden ist?

(20.09. + 14.11.1991; 16.12.1998; 31.08.2017; 03.06.2018)

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