Schreiben oder WoZ

1. Das Schreiben ist mir wichtiger als die WoZ. Wenn ich weiter schreiben will, dann kann ich nicht mehr veröffentlichen; wenn ich weiter veröffentliche, kann ich nicht mehr schreiben.

2. Das Schreiben ist mir wichtiger als die WoZ heisst auch: Lieber vorläufig nicht mehr schreiben, als diese tägliche Konfrontation mit dem strukturell bedingten Nichtschreiben auf der WoZ.

Was die Neulancierung der Zeitung als «WoZ 90» angerichtet hat: eine unabsehbare intellektuelle Verwüstung im Infolink-Kollektiv: Der Zweck des Projekts ist nun – eine Folge wachsender Sachzwänge – im Prinzip das Geldmachen; das Ideelle, das für mich den Sinn des Projekts ausgemacht hat, verkommt tendenziell zur Ideologie: Früher verkauften wir unsere Inhalte als Zeitung, um weitermachen zu können; heute schreiben wir unsere Geschichten so, dass wir davon möglichst anständig leben können: eine Art dialektisches Umkippen (vom Kopf auf die Füsse, also von der Utopie in die Illusion).

(02.-07.05.; 21.06.1991; 01.09.2017)

 

Nachtrag 1

Wahr ist, dass ich mich in den frühen neunziger Jahren aus der Rolle des regelmässig journalistisch Schreibenden zurückzuziehen versucht habe. Von Mai 1992 bis April 1993 setzte ich bei der WoZ ganz aus und recherchierte im Rahmen des Projekts NONkONFORM. Nach einem letzten Jahr in der Redaktionsstelle Bern 1993/94 reduzierte ich von 80 auf 60 Stellenprozente und absolvierte meine Arbeitszeit von nun an blockweise als «Inland-Sitzredaktor», das heisst als rotierender Produktionsleiter für den Inland-Teil, auf der WoZ Zürich. Für die Zeitung geschrieben habe ich seither, wenn überhaupt, in der Freizeit gegen Zeilenhonorar.

Trotzdem ist die Rede von der «unabsehbaren intellektuellen Verwüstung» und dem vulgärmarxistischen Versatzstück des «dialektischen Umkippens» falsch. Wahr ist, dass basisdemokratische Prozesse, wie es die innenpolitischen Entwicklungen der WoZ bis heute weitgehend geblieben sind, zwar immer eine Tendenz aufweisen, nie aber plötzlich etwas ganz anderes werden können. Völlig neuartige Prozesse müssen in einer vorgegebenen Struktur von oben dekretiert werden. Basisdemokratische Strukturen sind in dieser Hinsicht konservativ.

Richtig ist allerdings tendenziell, dass sich die WoZ in den neunziger Jahren für die Logik des Marktes geöffnet hat. Bloss: Vorausgesetzt, sie wollte überleben, was hätte sie anderes tun können in Anbetracht der fulminanten Strukturveränderungen im Medienbereich, der jahrelangen wirtschaftlichen Rezession und vor dem Hintergrund der Zeitenwende von 1989, die den Markt für unsere Praxis langfristig alternativlos gemacht hat?

(13.10.1998)

 

Nachtrag 2

Unterdessen bin ich seit rund sechs Jahren nicht mehr WoZ-Kollektivmitglied (die Zeitung nennt sich jetzt WOZ); seit Ende 2005 habe ich auch kein Fixum mehr als regelmässiger Mitarbeiter (es betrug zuerst 1500 Franken monatlich, später noch 1000 Franken – für alternative Verhältnisse war das zweifellos ein goldener Fallschirm für ein verdientes Firmenmitglied). Trotzdem habe ich bis heute dieses bedingungslose Schreiben als eigenes, das mir 1991 vorgeschwebt haben mag, nie betrieben. Seit zwei Jahren stehe ich im Dienst der C. A. Loosli-Werkausgabe, schreibe dort Entwürfe zu Anmerkungen, Einführungen und Editorials und also weiterhin «entfremdete» Texte.

Jedoch: Heute ist das für mich so in Ordnung, denn unterdessen bin ich von folgendem überzeugt: Das Eigene zu schreiben als Schreiben an sich zu betrachten, ist eine idealistische Illusion, an der alle Schreibenden scheitern – und nur die überragend Begabten auf lesenswerte Weise. Zweitklass-Begabungen, wie ich eine bin, haben beim Versuch, zu schreiben-an-sich, nichts zu gewinnen: Man hört zu schnell das Räderwerk der narzisstischen Selbstinszenierung quietschen und wird der Vorführung überdrüssig, lange bevor sie fertig ist. Jedoch können auch Zweitklass-Begabungen mit ihrem Handwerk sehr wohl Nützliches und Brauchbares leisten, wenn sie sich dazu bequemen, statt «künstlerische Genies» zur Aufführung zu bringen, sich als «organische Intellektuelle» (Gramsci), dort, wo sie leben, in den Dienst des hier und jetzt gesellschaftlich Notwendigen zu stellen. Das eben versuche ich heute mit der Arbeit an der Loosli-Werkausgabe zu tun.

(10.11.2007; 01.09.2017)

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