Obschon dieser Text zum Projekt «Stückwerk» gehört, habe ich ihn auf 1. September 2017 – zum zwanzigsten Todestag von Oskar Scheiben – einerseits als Monatskolumne und andererseits als Beitrag auf Journal B – dort mit einem Foto der damaligen WoZ-Fotoredaktorin Gertrud Vogler und unter dem Titel «Der WoZ-Redaktor, der plötzlich verschwand» – veröffentlicht.
Hier die Nachträge zum Werkstück:
Bei der Lektüre von Marc Rufers Buch «Glückspillen. Ecstasy, Prozak und das Comback der Psychopharmaka» (München [Knaur] 1995, S. 68) fällt mir Oskar Scheiben ein, als ich über Spätdyskinesien als Nebenwirkung von Neuroleptika lese: «[…] bei der es zu spontanen, nicht kontrollierbaren Bewegungen der Mund- und der Gesichtsmuskulatur (Schmatz- und Kaubewegungen), der Zunge, Schleuderbewegungen der Arme und Beine, langsamen, geschraubten Bewegungen der Finger und Hände, die bizarr wirken, usw. kommt.» Vor allem die motorischen Auffälligkeiten von Armen und Beinen waren im beschriebenen Sinn bei ihm vorhanden. Litt Scheiben unter einer Spätdyskinesie als Folge einer Neuroleptika-Behandlung im Zusammenhang mit der von ihm in der Notiz zu den gesundheitlichen Störungen erwähnten «larvierten Depression»?
(20.03.1999; 31.08.2017; 05.06.2018)
Heute lese ich den Text über Oski auf der Zürcher WoZ-Redaktion im Rahmen einer Nummernkritik vor (ich mag nicht mehr zur Zeitung reden – was ich nie gut gekonnt habe –, weil mir einfach nichts mehr einfällt). Der Text wird vom Plenum gut aufgenommen – etwas Besinnliches halt, wie man es sich vom Pfarrer der Firma bieten lässt.
pl und mü lassen einzig das Wort «Mobbing» nicht gelten (die beiden sassen damals in der Geschäftsleitung). Die Entscheide für die Reduktion des Dossierteils seien ökonomisch erzwungen und formell korrekt abgewickelt worden. Scheiben habe im Rahmen dieser Diskussionen sehr wohl geholfen, im Interesse des Gesamtbetriebs zu entscheiden. Allerdings stimme wohl, so mü, dass Scheiben inhaltlich immer mehr an den Rand gedrängt und häufig nicht mehr ernst genommen worden sei. Das sei sicher verletzend gewesen.
(31.5.2001; 05.06.2018)
Was mir jetzt wieder einfällt: Im Zusammenhang mit dem runden Datum «20 Jahre Jugendbewegung 1980» habe ich 2000 vorgeschlagen, in der WoZ einen grösseren Text über Scheiben zu schreiben, insbesondere über seine intensive publizistische Aktivität unter dem Pseudonym O-the-Punk in den frühen achtziger Jahren.
Ich erinnere mich an Recherchen: Ich habe sämtliche Ausgaben mehrerer Zeitschriften aus der fraglichen Zeit durchgeforstet; ich habe in Zürich mit Kenny (Kenneth) Angst geredet, der damals Diskussionspartner von Scheiben und unter dem Pseudonym Red Shoe verschiedentlich Co-Autor von O-the-Punk gewesen ist; ich bin ein zweites Mal nach Boltigen und hinauf zum Scheiben-Hof gepilgert, der Zwillingsbruder hat mich im Auto an einem nebligen Märznachmittag weiter den Berg hinaufgefahren, wir sind durch knöchelhohen nassen Schnee eine Wiese hinauf zu einer Alphütte gestapft: In einem kalten, feuchten Raum lagen in Kisten Papiere und Bücher: Scheibens Nachlass aus seiner Zürcher Wohnung.
Sein WoZ-Nachlass liegt bei mir Zuhause auf dem Estrich in Transportkisten der Post – verstaubt und bis heute nicht gesichtet. Ich wollte damals zuviel und habe schliesslich nichts geschrieben. Auch die Idee, die ich nach Oskis Tod mit dem damaligen WoZ-Kollegen mb diskutiert habe – ein Bändchen mit seinen Essays zusammenzustellen und herauszugeben – ist Idee geblieben.
(10.10.2008)
Nun fördern wenige Klicks im eigenen PC Recherchematerial zu den nicht realisierten Projekten zu Tage. Zum Beispiel diesen Antrag:
«Buchprojekt Oskar Scheiben
Ich beantrage, die WoZ solle ein Buch mit Texten von und über Oskar Scheiben machen, und zwar entweder in der Reihe ‘Thema WoZ’ oder in der Reihe ‘WoZ im Rotpunktverlag’.
Begründung:
Die Idee tauchte ursprünglich in einem Gespräch zwischen mb und fl schon vor längerer Zeit auf. Natürlich war am Anfang das Motiv der Pietät, dass es an uns sei, dafür zu sorgen, dass Oski nicht sang- und klanglos vergessen werde.
Aber ich meine, es gibt Argumente für ein solches Buch: Oskar Scheiben war ein durch und durch integrer, eigenwilliger Intellektueller mit Ecken und Kanten. Seine intensive publizistische Arbeit umspannt die ersten 16 Jahre der WoZ, dokumentiert und kommentiert sie. Scheiben hat eine Sprache geschrieben, die durch ihre Klarheit und ihre analytische Kraft weit über den Tag hinaus diskutabel bleibt – auch wenn man mit den Argumenten im einzelnen nicht einig geht. Mich erinnert das vorgeschlagene Projekt an jenes Buch, das der Limmat-Verlag ungefähr 1983 über den damals verstorbenen Ruedi Lüscher herausgegeben hat.[1]
Konzeptidee:
Das Buch müsste aus zwei Teilen bestehen:
A) Texte von osk
Hier ist zu berücksichtigen, dass Scheiben auch unter den Pseudonymen Rico Ratso und O-the-punk geschrieben und neben der WoZ auch in weiteren Medien publiziert hat (Eisbrecher, Brecheisen, Tell, Widerspruch, ev. Focus). Hier geht es zuerst um das Zusammentragen des gesamten publizistischen Werks (allenfalls inkl. Dissertation), danach um das Zusammenstellen einer repräsentativen Auswahl von Arbeiten, die als Ganzes die Schweiz zwischen 1980 und 1997 aus Scheibens Sicht spiegeln.
B) Texte über osk
Hier sehe ich zwei Elemente (in irgendeiner Weise als Vorwort und Nachwort):
• Biografische Skizze: Scheibens Biografie (Boltigen/Dorf, Familie, Kindheit, Postbeamter, Studium in BE und ZH, 80er Aktivist, WoZ-Redaktor. Antwort auf die Frage: Wer war Oskar Scheiben?);
• Essay zur intellektuellen Verortung: In einem Gespräch mit ls entwickelte sie am 23.7.1998 die These von Scheiben als getriebenem Grenzensprenger, der sich lebenslang aus der Enge des Simmentals zu befreien versucht habe etc. Allenfalls könnte man hier ls bitten, ihre These auszuformulieren.
Weiteres Vorgehen
Vorbehalten, dass die WoZ/die Verlagsgruppe diesen Buchvorschlag als realisierungswürdig erachtet, wäre ich bereit, die Arbeiten an die Hand zu nehmen (ev. zusammen mit mb und ls). Die Produktionszeit des Buches wäre aber sicher eher auf zwei als nur auf ein Jahr anzusetzen, weil ich dieses Projekt nur in zweiter Priorität vorantreiben könnte.
Ich bitte um ein grundsätzliches Feedback in den nächsten Wochen (arbeite ab 1. August in Bern an NONkONFORM 2).
Geht an: Verlagsgruppe, Geschäftsleitung, Redaktionsausschuss
fl,
30.7.1998»
[1] Pierre Bachofner et al. [Hrsg.]: Rudolf M. Lüscher: Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse. Zürich (Limmat Verlag) 1984.
Ich erinnere mich nicht daran, wie die Antwort der Gremien ausfiel resp. warum wir/ich das Projekt nicht weiter verfolgt habe(n). – An Recherchematerial finde ich auch meine Notizen zum Gespräch mit Kenneth Angst, das «ca. März 2000» im Restaurant Quaglinos an der Dufourstrasse in Zürich stattgefunden hat:
«Angst (*1954) ist ein geschliffener, leicht übergewichtiger Managertyp, der sich weltoffen gibt, genau weiss, was er sagen will und was nicht und schlecht zuhören kann [er arbeitete damals als stellvertretender Chefredaktor der NZZ, zuvor war er persönlicher Berater von Bundesrat Kaspar Villiger, fl.]. Zur Diskussion steht die Zeit um 1980, als er im Umfeld der Zürcher Jugendbewegung zusammen mit O-the-Punk (Oskar Scheiben = osk) als ‘Red Shoe’ in Erscheinung getreten ist.
Für Angst war osk ein 68er, der sich als ‘Bewegungstheoretiker’, als theoretische Avantgarde der 80er Bewegung verstanden habe. Die Faszination der Bewegung(en) habe für ihn darin bestanden, dass er in ihnen in der Nachfolge des Proletariats ein neues revolutionäres Subjekt zu erkennen vermeint habe. Die Strategie der Gesprächsverweigerung dieser 80er Bewegung habe ihm die Verhinderung der Integration garantiert. O-the-punk: begrifflich-analytisch scharf, streng akademisch und neomarxistisch, auf der Grenze zwischen Bewegtem und teilnehmendem Beobachter der Bewegung mit viel Sympathie für diese Rebellion des Bauches.
Im Kopf seien sie beide ‘Zwitter’ gewesen, einerseits stark theoretisch ausgerichtet, andererseits mit starkem Hang zur Verlockung der Anarchie. (Im Rückblick, sagt Angst, habe es sich damals allerdings nicht um ‘Anarchie’ gehandelt, sondern um einen Individualisierungsschub im Zug der Modernisierung).
Er habe die Bewegung als ‘Befreiung’ erlebt. Er sei immer an den Demos gewesen, habe aufgelebt und daran eine ‘Scheissfreude’ gehabt – immer hart an der Grenze zwischen Gaffer und Militantem. osk habe die Bewegung als Befreiung verstanden, sei zu Punkmusik tanzen gegangen, obschon er viel älter gewesen sei als alle anderen und mit seinen eckigen Bewegungen merkwürdig ausgesehen habe.
osk sei damals im akademischen Milieu geachtet gewesen. Beide hätten sie Geschichte und Soziologie studiert, später seien sie Assistenten gewesen beim Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler (bis etwa 1983/84) und hätten schliesslich im gleichen Bereich dissertiert: osk habe über die Sozialdemokratie, er, Angst, über den Gewerbeverband und den Mittelstand in den 1930er Jahren gearbeitet. Siegenthaler sei ein Technokrat gewesen, der sich damals immer mehr geöffnet habe.
Warum und wann sie ihre Pseudonyme gewählt hätten, ist ihm nicht mehr klar. Sicher sei, dass sie nicht bierernste Militanz signalisierten, sondern einen gewissen spielerischen Aspekt gehabt hätten. Möglich sei, dass sie sie erstmals in einem «konzept»-Beitrag verwendet hätten ca. im Juni 1980, in dem sie ziemlich ungefiltert ihre Begeisterung über die Ereignisse ausgedrückt hätten (Titel ev.: «Was lange gärt, wird endlich Wut»)[1].
ad. NZZ-Artikel, September 1980[2]: Der Artikel sei ursprünglich für den ‘Tages-Anzeiger’ verfasst worden, der ihn aber als zu akademisch und zu theoretisch abgelehnt habe. In der Folge hätten sie eine NZZ-kritische Passage gestrichen und den Text der NZZ angeboten. Redaktor Hugo Bütler [NZZ-Chefredaktor ab 1985, fl] habe den Text angenommen und mit einer Einleitung versehen. Das sei sein erster NZZ-Artikel und der erste Kontakt mit Bütler gewesen.
ad. Gemeinsame Schreibarbeit: Zuerst einmal hätten sie sich in jener Zeit analytisch und ‘sozialpsychologisch’ sehr gut verständigen können, man habe ‘eine Zeitlang gleich getickt’ und ‘die Euphorie’ hätte die Unterschiede überdeckt. Sie hätten dann ihre Texte vordiskutiert, und danach habe jeder einzelne Abschnitte geschrieben. Wegen der Nähe der Perspektive hätten sich die Teile danach ohne grosse Probleme zusammenfügen lassen.
ad. Entstehung der Entfremdung: Zweifellos habe ihre Beziehung auch einen ‘homophilen’ Zug gehabt, der freilich vor allem für osk wichtig gewesen sei. Ihm sei es mit der Zeit zu viel gewesen, wie anhänglich osk geworden sei und wie stark er ihn immer wieder mit Komplimenten überhäuft habe. Eine erste starke Zäsur habe es dann gegeben, als er 1982, ohne gegenüber osk dies gross zu kommunizieren, V. geheiratet habe und von diesem Moment an ‘homophil’ nicht mehr verfügbar gewesen sei, die Heirat habe für ihn zudem den Ausstieg aus der Szene bedeutet. osk habe mit Eifersucht auf die Heirat und schlecht auf V. reagiert. osk habe seines Wissens nie eine Freundin und ein gestörtes Verhältnis zu Frauen gehabt. Die zweite Zäsur sei dann die Tatsache gewesen, dass er, Angst, für die NZZ zu arbeiten begonnen habe.
ad. Herkunft Angst: Vater Ingenieur. Grossvater Schmied. Die Herkunft sei jedoch zwischen ihnen kein Thema gewesen, es sei ja eher um das Abstreifen der eigenen Geschichte gegangen. Auffallend an osk sei gewesen, dass er als ehemaliger Posthalter ein Ordnungsfanatiker gewesen sei und sich vielleicht gerade deshalb für die gesellschaftliche Unordnung, die die Hochphase der Bewegung hervorgerufen habe, begeistern konnte. Sein hypochondrischer Zug, sein zum Teil wohl erzwungenes und erlittenes Alleinsein sei von der Bewegung überdeckt worden. Dort habe er auf eine unverbindliche Art dazugehört.
ad. osk.’s Tragik: Spätestens ab 1983 habe die Rolle des Theoretikers, die osk zu spielen versucht und aus der er sein Selbstbewusstsein bezogen habe, allgemein an Bedeutung verloren.»
[1] Wie ich aus der damals angelegten Liste «Publizistische Arbeiten von Oskar Scheiben/O-the-Punk» ersehe, handelt es sich höchstwahrscheinlich um den Beitrag «Die grosse Wut und ihre klammheimliche(n) Freu(n)de», der tatsächlich im Juni 1980 im «Konzept» erschienen und der erste ist, den ich unter den Autorennamen «O-t-P/Rs» vermerkt habe.
[2] Dieser Text fehlt auf meiner Liste.
In meinen Recherchematerialien finde ich schliesslich einen Brief an osk’s Zwillingsbruder Hermann Scheiben vom 10. Januar 2001:
«Lieber Herr Scheiben
Zuerst muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich so lange nichts von mir hören liess. Ich habe Sie im letzten Frühjahr besucht mit der Absicht, in den folgenden Monaten einen grossen Bericht über Ihren verstorbenen Bruder Oskar als O-the-Punk in den frühen 80er Jahren zu schreiben. Sie haben mir damals Auskunft gegeben und Material von und über Oskar zur Verfügung gestellt.
Seither ist nicht alles nach meinem Kopf verlaufen. Ich bin bei der WoZ das ganze Jahr kaum mehr zum Schreiben gekommen. Dauernd war ich in die Sitzredaktion des ‘Inlands’ und in den Redaktionsausschuss eingespannt und mit Redigieren, Organisieren und Administrieren beschäftigt. Meine Freizeit konnte ich nicht an diese Arbeit geben, weil ich ein umfangreiches Buch abschliessen musste (über die Subkultur der 1960er Jahre in Bern), das nun in diesem Frühjahr erscheinen soll. So verstrich der ‘Aufhänger’ für meine Geschichte – 20 Jahre Jugendbewegung – ungenutzt, ohne dass ich den geplanten Text geschrieben hätte.
Im letzten Frühling habe ich allerdings noch ein bisschen weiter recherchiert. Insbesondere habe ich nun eine wie ich hoffe vollständige Liste der Texte, die Oskar um 1980 geschrieben hat, publiziert zum Teil unter seinem eigenen Namen, zum Teil unter dem Pseudonym, allein oder mit anderen. Die Liste der Texte lege ich Ihnen bei, vielleicht erinnern Sie einzelne Artikel an Gespräche mit ihrem Bruder.
Daneben schicke ich Ihnen mit heutiger Post die Grabrede, verschiedene Artikel von Oskar und solche über seine Dissertation sowie sein Halbtaxtabonnement mit bestem Dank zurück (die Fotografie habe ich mir kopieren lassen).
Noch bei mir behalte ich im Moment verschiedene journalistische Dossiers, die ich ebenfalls mitgenommen habe. Sie genauer anzuschauen, bin ich noch nicht dazu gekommen.
Nach wie vor möchte ich die Geschichte über Oskar schreiben. Allerdings fehlt mir nun der Aufhänger und nach wie vor die Zeit (ich plane, mich auf Anfang 2002 vermehrt als freier Journalist zu versuchen – so werde ich wieder mehr Zeit zum Schreiben haben und meine Themen zum Teil auch ein bisschen auswählen können – wie ich hoffe). Wenn sich das Projekt konkretisieren wird, werde ich Sie auf dem Laufenden halten.
Vorderhand wünsche ich Ihnen nachträglich noch ein gutes neues Jahr.
Mit besten Grüssen
fl»
Das im Nachtrag 3 erwähnte Material von und über Oskar Scheiben liegt weiterhin unberührt und um neun Jahre mehr verstaubt auf dem Estrich. Bei Null müsste man nicht anfangen, aber anfangen müsste man.
(01.09.2017; 05.06.2018)