Logozentrische Zauberlehrlinge

Für ein Seminar des WoZ-Kollektivs am 20./21. November 1998 wurden allen Kollektivmitgliedern zum voraus zwei Fragen gestellt, die sie schriftlich zu beantworten hatten: Warum sie bei der WoZ seien und welche Aufgabe die Zeitung ihrer Meinung nach habe. Meine Antworten:

«1. Ich bin bei der WoZ aus publizistischen, weltanschaulichen und mittlerweilen auch nostalgischen Gründen:

• Publizistisch: Trotz aller Unzulänglichkeiten gehört die WoZ heute im deutschsprachigen Raum zu den qualitativ besten und fundiertesten linken Zeitungen.

• Weltanschaulich: Die WoZ war für mich nie nur Produkt, sondern immer auch Projekt. Das Experiment seiner Weiterentwicklung im Rahmen von nichthierarchischen und basisdemokratischen Strukturen bei Lohngleichheit ist voller Widersprüche, aber nach wie vor im Gang.

• Nostalgisch: Mein erster Text stand im November 1981 in der WoZ; Kollektivmitglied bin ich seit Oktober 1982. Seither geschah eine ganze Menge Leben: Das, was ich heute bin, wurde ich massgeblich durch die WoZ und durch jene, die sie machten und machen.[1]

2. Die Aufgabe der WoZ ist

• als Produkt: Abbildung und Reflexion der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene national und international aus einer parteiunabhängigen, undogmatisch linken Sicht, deren genaue Perspektive innerhalb des Kollektivs diskursiv immer wieder neu bestimmt werden muss;

• als Projekt: Erbringung des täglichen Tatbeweises durch die Praxis, dass es zur herrschenden Art, wirtschaftliche Strukturen zu organisieren, lebbare Alternativen gibt, die basisdemokratischer, weniger entfremdet und – herrgottzack! – menschlicher sind als die übliche Hackordnung.»

[1] Später habe ich mir angewöhnt, kritische Erinnerungen an meine WoZ-Zeit mit der Aussage zu relativieren, dass abgesehen davon aber klar sei, dass die WoZ für mich als Nichtakademiker die Universität gewesen sei.

(11.11.1998; 23.08.2017; 06.06.2018)

 

Nachtrag

Das Seminar hat dann einen Verlauf genommen, der solch pathetische Stellungnahmen völlig in den Hintergrund rückte. Durchgeführt wurde es im Auftrag des Kollektivs von einer Psychologin und Betriebsberaterin, die Erfahrung hatte in der Zusammenarbeit mit selbstverwalteten Betrieben.

Wegen langwieriger gärender Konflikte – in erster Linie zwischen dem Verlag und dem von der Redaktion dominierten Gesamtkollektiv – erhielt sie vorgängig den Auftrag, die Veranstaltung so durchzuführen, dass wir als Kollektiv in den real herrschenden Widersprüchen gespiegelt und diese nicht wie gewöhnlich zugeschüttet würden. Diese Forderung wurde am Morgen des zweiten Seminartags sowohl von Verlags- wie von Redaktionsseite bekräftigt, indem man davor warnte, vorschnell zu einer relativ unverbindlichen Debatte über die Neustrukturierung des Gesamtbetriebs überzugehen, bevor der schwelende Konflikt wirklich auf dem Tisch sei.

In dieser Situation lud die Psychologin ein zu einem Spiel mit ungeahnten Folgen: Alle Anwesenden erhielten drei Kichererbsen und den Auftrag, diese jenem Kollektivmitglied oder jenen -mitgliedern zu überreichen, die ihrer Meinung nach real die Macht im Betrieb innehätten. Ein paar Minuten später war klar: Das Verhältnis zwischen informeller und formeller Macht beträgt in der Einschätzung der Kollektivmitglieder ungefähr 5 zu 1; eines der beiden Geschäftsleitungsmitglieder hat faktisch keine Macht; ebenso die Produktionsabteilung; das Machtverhältnis zwischen Redaktion und Verlag beträgt ebenfalls ungefähr 5 zu 1 (mir selbst wurden drei von 75 im Spiel befindlichen Kichererbsen zugeteilt).

Nachdem sich die führenden «ErbsenträgerInnen» im Raum so postiert hatten, wie es ihrer Nähe-Distanzempfindung als angemessen erschien, hatten sich die restlichen Kollektivmitglieder, ebenfalls ihrer Empfindung entsprechend, im Raum zu gruppieren. Nun standen fünf Personen des Verlags dem Rest des Kollektivs gegenüber. Die Erfahrung dieser Konfrontation, dieses Gegeneinandergestelltseins wirkte unvergleichlich mehr als alle inhaltlichen Auseinandersetzungen, die zwischen dem Verlag und der das Kollektiv repräsentierenden Geschäftsleitung zuvor zum Teil jahrelang geführt worden waren: Am ersten Arbeitstag nach dem Seminar reichten drei Mitglieder der marginalisierten Gruppe ihre Kündigung ein.

(02. + 09.12.1998; 23.08.2017; 06.06.2018)

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