Läufelfinger Arbeitspapier

Am Wochenende vom 29. und 30. Juni 1985 traf sich das Kollektiv, das damals seit bald vier Jahren die WochenZeitung WoZ herausgab, in Läufelfingen im oberen Baselbiet zu einem Seminar. Thema war die Verständigung über das Wie-weiter? – insbesondere was die Verortung der eigenen Arbeit und die redaktionelle Ausrichtung der Zeitung betraf. Ich übernahm es, die Ergebnisse thesenartig zusammenzufassen.

Das so entstandene «Läufelfinger Arbeitspapier» diente über mehrere Jahre sporadisch als Diskussionsgrundlage. So finde ich in meinen Unterlagen ein siebenseitiges Papier der Geschäftsleitung, die es unterdessen gab, mit dem Titel «Krise und Perspektiven: Für eine Vision WoZ!», datiert mit «im März 1993». Auf der achten Seite wurde, offenbar als Diskussionsanregung, das damals schon fast historische «Läufelfinger Arbeitspapier» angehängt.

Ich dokumentiere diesen Text hier als eine meiner journalistischen Arbeiten, weil er authentisch den Diskussionszusammenhang, die verwendete Terminologie und das publizistische Selbstverständnis des WoZ-Kollektivs um 1985 spiegelt. Ein damals zentraler Begriff unserer Arbeit fehlt darin: «anwaltschaftlicher Journalismus». Dass wir uns diesem verpflichtet fühlten, dass wir den Sinn unseres Projektes gerade darin sahen, nach dem Prinzip der Parteilichkeit von links gegen rechts, von unten gegen oben Journalismus zu betreiben, war so selbstverständlich, dass wir es nicht explizit betonen mussten.

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«Der Konsens der ‘Gegenöffentlichkeit’ (Gegeninformation, Organisation von Gruppen, Avantgardefunktion in den Diskussionen), mit dem die WoZ 1981 angetreten ist, muss erweitert werden durch ein verstärktes gegen-kulturelles Selbstverständnis. Folgende zwei Funktionsschwerpunkte sollen für alle Ressorts (Inland, Ausland, Kultur) gelten:

1. Die WoZ versteht sich als Teil der unabhängigen Linken und begleitet kritisch – soweit ideologisch sinnvoll auch solidarisch – die aktuellen sozialen Dissensbewegungen, und zwar

a) versucht die WoZ mehr als bisher die verengte politische Perspektive zu sprengen und vermehrt die alltägliche Lebenswelt einzufangen. In diesem Sinn trägt die WoZ durch Herstellung von Identität zur Stärkung der Gegen-Kultur (‘unserer’ Kultur) bei. Die WoZ soll mithelfen, die Vereinzelung und Orientierungslosigkeit in der unabhängigen Linken aufzufangen.

b) durch Dokumentation. Die verschiedenen Richtungen in der Linken werden nicht mit einer fraktionellen Perspektive von vornherein widerlegt, sondern zuerst einmal deskriptiv dargestellt. Diese so weitgehend wie möglich systematische Dokumentation umfasst Veranstaltungen, Tätigkeiten und Publikationen. Hauptschwierigkeit heute und Ziel ist die Überwindung der an Personen geknüpften Zufälligkeit thematischer Abdeckung (‘Beliebigkeit’). Die systematische und kontinuierliche Dokumentation legitimiert erst zur fundierten Kritik.

c) durch Analyse, Kontroverse, Diskussion, kommentarhaftes Vordenken in bezug auf Inhalt, Ausdruck und Strategie der Bewegungen. Hier bezieht die WoZ pointiert Stellung (‘Leitartikel’).

d) durch Abbildung/Dokumentation des politischen Gegners. Interessieren sollen hier weniger Skandale und Auswüchse als vielmehr die alltäglich spielenden Mechanismen des herrschenden politischen Systems.

2. Nur Vielfalt ‘unseres’ Lebens und ‘unserer’ Kultur können formale Vielfalt hervorrufen und garantieren. Verarmung des einen impliziert Verarmung des andern. Sprachliche, bildliche und grafische Rituale sollen immer wieder aufgebrochen werden. Dies ist Voraussetzung für Pflege und Erneuerung von Sprache, Bild und Grafik.

Diese Grundsätze sollen in verschiedenen Arbeitsgruppen konkretisiert werden mit der Fragestellung: Was bedeuten sie für Verlag, LeserInnenwerbung, Inserateacquisition, Redaktion, Bildredaktion, Administration und Grafik?

(Diesem Papier liegen Formulierungen der Arbeitsgruppe ab., sib., jm, fla., hlip. + fl. zugrunde. Sie wurden ergänzt und erweitert durch die Notizen der Arbeitsgruppe pl. u.a. und durch Ideen aus der Diskussion am Läufelfinger Seminar vom 29. + 30. Juni 1985).

fl, 1.7.85»[1]

[1] Seither ist das «Läufelfinger Arbeitspapier» auch dokumentiert worden in: Stefan Howald: Links und bündig. WOZ Die Wochenzeitung. Eine alternative Mediengeschichte. Zürich (Rotpunktverlag) 2018, S. 341f. Gestrichen worden ist der Hinweis auf die Arbeitsgruppen am Schluss, meine Initialen sind ersetzt worden mit «Zürich» – möglich gewesen wäre auch «Bern», weil ich 1985 in der WoZ-Aussenstelle Bern gearbeitet habe.

(01.07.1985; 25.08.+04.09.2017; 21.03.2018)

 

Nachtrag

Im Zusammenhang mit der Bearbeitung dieses «Werkstücks» bin ich auf den Estrich gestiegen und habe das Notizbüchlein hervorgekramt, das mich im Sommer 1985 nach Läufelfingen begleitet hat. Viel habe ich nicht aufgeschrieben, ich habe mir damals vermutlich noch anderswo Notizen gemacht. Immerhin finde ich eine grafische Skizze mit den Rubriken «Abbilden», «Vordenken/Analyse» und «Dokumentation (Gegner)» – die zu den Punkten 1b bis 1d des «Läufelfinger Arbeitspapiers» geworden sind. Direkt darunter steht die Notiz: «rst je 1/3».

«rst» steht für Res Strehle. Offenbar plädierte er in der Diskussion dafür, den zur Verfügung stehenden Platz in der Zeitung im Dienst des anwaltschaftlichen Journalismus zu gleichen Teilen dem Abbilden, Analysieren und Dokumentieren zur Verfügung zu stellen. Daneben vertrat er damals das «Modell de Luxe», das in den Diskussionen jeweils gegen das «Modell Volksfront» stand und gegen die vorab quantitative, die vorab qualitative Weiterentwicklung der Zeitung befürwortete: rst stand für mehr journalistische Qualität, mehr redaktionelle Qualität, mehr ideologische Qualität. In Bezug auf den einzelnen journalistischen Beitrag qualifizierte er nach drei Kriterien, die er oft genug wiederholt hat, um sie mir sinngemäss unvergesslich zu machen: Ein guter WoZ-Artikel müsse erstens etwas Neues bieten, zweitens gut (originell, sprachlich innovativ) geschrieben sein und drittens unsere linke Position in der konkreten Geschichte herausarbeiten.

Journalistische Qualität ist bis heute ein Steckenpferd von rst geblieben. Seit er aus Altersgründen als Chefredaktor des Tages-Anzeigers seinen Abschied gegeben hat, amtet er als Präsident der Schweizer Journalistenschule (MAZ) und als Verantwortlicher für das Qualitätsmonitoring des Tamedia-Konzerns. Er ist zurzeit demnach zweifellos einer der massgebenden Köpfe in der Schweiz, wenn es um die Frage geht, was qualitativ guter Journalismus sei. Im Frühling 2017 hat er nun – sinnigerweise als Co-Autor, zusammen mit dem Tamedia-Verwaltungsratspräsidenten Pietro Supino – die nur Tamedia-intern verteilte Schrift «Qualität in den Medien» vorgelegt. Versucht wird darin, Qualität mittels sechs Kriterien zu objektivieren, mittels «Instrumenten» zu operationalisieren und mittels «Messbarkeit» und «Subjektivitätsfaktoren» zu qualifizieren. Das Resultat, wie ich es verstehe, ist der Versuch, Journalismus als quasi naturwissenschaftlich objektive, unangreifbare Faktenvermittlung derart zu imprägnieren, dass kein Verdacht aufkommen kann, er könnte im Entferntesten etwas mit einer politischen Stellungnahme zu tun haben.

Ich weiss, ohne ihn zu fragen, dass rst weiss, dass ein solcher Qualitätsbegriff auch eine politische Stellungnahme ist. Das macht die Sache nicht besser.

(19.08.2017; 07.09.2017)

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