Geständnis eines Möchtegerns

Anfang Oktober 2006 wird die WOZ 25 Jahre alt. Für die Jubiläumsausgabe, die sie zu diesem Datum herausgeben will, bittet die Redaktion auch mich um einen Beitrag. Ich schlage dem zuständigen Redaktor Pit Wuhrer unter anderem Folgendes vor: «Du schreibst in Deinem Themenpapier: ‘In den letzten 25 Jahren haben sich die Bedingungen für die Linke erheblich verändert».’ Ich schlage vor, dass ich in diesem Satz aus ‘die Linke’ ‘die Linken’ mache und im speziellen jene meine, deren Name, wie meiner, früher einmal im WoZ-Impressum stand, die nun diese Jubiläums-WOZ vollschreiben und deren Bedingungen sich unterdessen tatsächlich erheblich verändert haben. Ich stelle also als ehemaliger Pfarrer der WoZ standesgemäss die Frage nach einer linken Ethik. Meine Frage war ja schon immer weniger: Was muss man denken, damit man einE LinkeR ist?, sondern: Wie muss ich sein/leben, damit ich ein Linker bin?»

Geschrieben habe ich dann Folgendes:

*

«Es ist wahr: Mein Name stand fast zwanzig Jahre lang im Impressum der WoZ (so hiess diese Zeitung damals). Aber um ehrlich zu sein, hatte ich trotzdem stets den Verdacht, kein richtiger Linker zu sein. Nicht dass ich keiner hätte sein mögen. Aber ich wusste ja, wer ich tatsächlich war: bei der Arbeit ein verbiesterter Workaholic, am Feierabend ein verbiesterter Kleinbürger – und immer mehr moralisch empört als dialektisch-materialistisch aufgeklärt. Ich blieb, ach, all die Jahre, was ich schon mit 21 gewesen bin: ein abverheiter Schulmeister.

Ein richtiger Linker – das lernte ich auf der WoZ – revolutioniert die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln. Der Rest ist Sozialdemokratie. Deshalb gehörte dieses Zeitungsprojekt immer zu gleichen Teilen allen Kollektivmitgliedern. Und deshalb garantierte es allen, die mitarbeiteten, einen wenn nicht absolut gerechten, so doch relativ solidarischen Einheitslohn. Ein überlegen vernünftiges Modell – so weit wurde ich auf der WoZ tatsächlich zum Linken. Andererseits fehlten mir all die Jahre die Tugenden der blitzschnellen Einschätzung, der endgültigen Analyse und der praxisorientierten Zweifellosigkeit. Ich war stets erkenntnisskeptisch angekränkelt: Wie sollte ich wissen, was für die Welt gut ist, wenn ich das nicht einmal für mich selber wusste?

Darum grübelte ich zunehmend daran herum, wie man im Leben sein Linkssein optimieren könnte. Als Moralist fragte ich nun also auch noch nach der Ethik. Dies liess mich auf der WoZ zum Firmenpfarrer avancieren. Seither war ich zuständig für die so genannten ‘Amoks’. Das waren jene, die – moralisch empört wie ich – am Telefon von derart eminenten Verschwörungen wussten, dass gewöhnlich der grössere Teil des Bundesrats die kriminelle Vereinigung mitregierte, die aus dem Rest der Welt bestand. In guten Zeiten hatte ich einen ‘Amok’ nach einer halben Stunde so weit, dass wir beide in Anstand die Hörer auflegen konnten. Aber eine richtig-linke Praxis war das noch nicht.

Vielleicht gerade deshalb stiegen meine ethischen Ansprüche an eine optimierte Linksheit. Ich betrieb als Dilettant Feldforschung und gelangte mit der Zeit zur vollendeten Überzeugung, dass links zu sein in diesem Land etwas nachgerade unbefriedigend Unverbindliches habe: Hier, wo die satte Mehrheit stinkreich und gnadenlos egoistisch ist, genügte es, um links zu sein, sich der normativen Kraft des Faktischen als guter Demokrat zu unterziehen und contre coeur zu profitieren. Auch wir alten WoZ- respektive WOZ-VeteranInnen, die diese Jubiläumszeitung hier vollpinseln, könnten uns den Kollektivlohn heute nicht mehr lange leisten. Denn auf die Dauer haben wir neben einer Analyse alle auch einen Lebensstandard zu verteidigen.

Ein peinliches Sozialneidargument! Ein undialektischer Seitenhieb! Exgüse. Da ging der Kleinbürger mit mir durch. Richtig ist, dass wir die Denunziation der exorbitanten Managerlöhne für unseren Kampf strategisch nutzen und als gewerkschaftliche Linke die vollständige Lohntransparenz in allen Betrieben fordern müssen. Aber übertreiben wollen wir denn doch nicht.

Überhaupt ist das Entscheidende für uns alle, dass wir am Morgen am Badezimmerspiegel vorbei in die Küche kommen, ohne für den Rest des Tages wieder ins Bett zurückzukehren. Ich zum Beispiel muss mir ab und zu schon ein bisschen gut zureden und tue das dann jeweils so: Wenn auch der Kampf um die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln noch lang und hart sein wird – immerhin hast du das Produktionsmittel deines Kopfes teilbefreit! Frischauf, es gilt diese kleine Freiheit auf dem Arbeitskräftemarkt auch heute zu verteidigen! Und die befreiten Zonen deines Gehirns nütze zum Denken, solange du noch kannst!

Danach sage ich jeweils noch trotzig mein individualanarchistisches Credo auf: Handle, soweit du es dir leisten kannst, ohne Zwang und Auftrag so, dass der Nutzen deines Tuns über dein persönliches Interesse hinausweist. Für einen richtigen Linken reicht das zwar nicht. Aber ich komme so am Spiegel vorbei in den Tag.»

(05.10.2006, abgedruckt in WOZ, Nr. 40/2006; 04.09.2017; 08.06.2018; 17.2.2019)

 

Nachtrag 1

Ich war eben im elektronischen Archiv der WOZ unterwegs und bin in Bezug auf Obiges auf Folgendes gestossen: «Nr. 40/2006 vom 05.10.2006 / Warum ich nie ein richtiger Linker war / Ein überraschendes Geständnis von Fredi Lerch». Darunter findet sich statt des hier zitierten Textes ein Spendenaufruf für den «unabhängigen und kritischen Journalismus der WOZ». Henu. Linkssein heisst eben auch, Nebenwidersprüche im Dienst des Hauptwiderspruchs nicht zu ernst zu nehmen. (1.12.2021)

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