Ein Online-Medium erfinden

Die lokale Politik in der Stadt Bern ist durch ein Paradox geprägt: Die Mehrheit jener, die gewählt worden sind, um diese Stadt zu regieren, haben keine Stimme, um zu vermitteln, was sie tun und warum sie es tun. Rotgrün regiert zwar ununterbrochen seit 1991, aber zu hören ist seit bald zwanzig Jahren nur die Opposition. Konkret führen Bund und Berner Zeitung – Berns beide Zürcher Zeitungen – seit Monaten eine Kampagne gegen die rotgrüne Sozialdirektion der Stadt, in der die Stadtregierung – wenn sie nicht kurzerhand als «verlogener Haufen» verleumdet wird – nur noch als unfähige, vertuschende, irgendwie korrupte Angeklagte aufzutreten hat.

Dass diese Kampagne eine freisinnige ist und auf Provinzniveau mit einem Jahrzehnt Verspätung und dem Argumentarium der blocher’schen SVP (Stichwort: «Sozialmissbrauch») den neoliberalen Sozialabbau durch Verstärkung der Repression auf die SozialhilfeempfängerInnen durchsetzen soll, ist offensichtlich. Im einzelnen mögen die Gründe für die Auseinandersetzung vielschichtig sein. Dass die Regierung im allgemeinen und die Direktionsvorsteherin sowohl in der Sache als auch in der Kommunikation gegen innen und aussen Fehler gemacht haben mögen, soll ohne Kenntnis der Details zugestanden sein.

Sicher ist jedoch auch aus der Distanz: Abstrahiert man von persönlichen Animositäten und Ressentiments, so geht es inhaltlich nicht um einen Skandal und strafbare Handlungen, sondern um Ermessensfragen, um Einschätzungen, um Fragen nach mehr oder weniger Selbstbestimmungsrechten von SozialhilfeempfängerInnen, mehr oder weniger parapolizeiliche Aufgaben der Sozialarbeitenden, um mehr oder weniger Kontrolle, Überwachen und Strafen – es geht kurzum um politische Werte. Ein linksgrüner Selbstverantwortungsdiskurs steht einem bürgerlichen Repressionsdiskurs gegenüber. Mit den Mitteln der Skandalisierung und der Personifizierung haben die Medien die Verantwortlichen zu Angeklagten gemacht, die nirgends mehr sagen können, warum sie so handeln, wie sie handeln, sondern nur noch zu rechtfertigenden Stellungnahmen zugelassen werden.

Es ist ein Trauerspiel.

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Zur Analyse der Situation:

1. Entscheidend für die öffentliche Wahrnehmung dieses Konflikts ist die medienpolitische Situation: Die rotgrüne Regierung kann nur noch durch einen Filter kommunizieren, der sich als Teil der freisinnigen Kampagne als oppositionell versteht. In dieser Situation verhängnisvoll ist, dass es seit dem Untergang der «Berner Tagwacht»/«Hauptstadt» 1997 keine linksgrünen Medien mehr gibt, die öffentlich wahrnehmbar eingreifen könnten.

2. Die Linksgrünen haben kein Medium mehr, weil sie es finanziell nicht mehr tragen konnten (oder wollten). Zurzeit werden wir Zeugen, was passiert, wenn auch die Bürgerlichen Berns eigene Printmedien nicht mehr tragen können (oder wollen): Die Espace Media Group ist an den Tamedia-Konzern verkauft worden. Dieser wird noch in diesem Jahr den Printmedienmarkt sanieren. Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Krise und dem dadurch entstehenden Inseratedruck, wird der neue Eigentümer eine möglichst billige Variante zu realisieren versuchen müssen. Die billigste ist die: a) den Bund schliessen; b) ein derart attraktives Monopolmedium lancieren, dass möglichst alle «Bund»-AbonnentInnen auf das Monopolmedium (und nicht auf die NZZ) umschwenken; c) nach der Stabilisierung der Monopolsituation die Monopolzeitung zum Kopfblatt des «Tages-Anzeigers» herunterfahren.

3. Für linksgrüne Häme ist absolut kein Grund: Die Sanierung der Situation in Bern wird für den Tamedia-Konzern kommerziell nur dann interessant sein, wenn er das Monopolmedium in gutem Einvernehmen mit dem bürgerlichen Bern implementieren kann (also mit den bürgerlichen Parteien und Organisationen, mit Industrie und Gewerbe, mit dem Cityverein und der Burgergemeinde). Die linksgrüne Regierung wird sich einer noch oppositionelleren Presse gegenübersehen als jetzt schon.

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Lösungsvorschlag:

1. Wenn die Rotgrünen Berns in dreieinhalb Jahren ihr Gewicht in Regierung und Parlament verteidigen wollen, können sie es sich nicht leisten, von nun an in den Printmedien resp. im Monopol-Printmedium nur noch als Schiessbudenfiguren aufzutreten.

2. Deshalb braucht es für die Region Bern so schnell wie möglich ein neues Medium zum publizistisch-ideologischen Kampf, zur praktischen und theoretischen Selbstverständigung und zur solidarischen Kritik, wo benennbare Fehler gemacht werden oder Missstände rotgrüner Politik auftauchen.

3. Inhaltlich muss dieses Medium parteiunabhängig nach journalistischen Kriterien gemacht werden – formal ist aus finanziellen Gründen von vornherein ausschliesslich ein elektronisches Medium denkbar.

4. Publizistisch muss das Ziel sein, dass viele linksgrün Orientierte – aber nicht nur!  – die Website dieses Mediums so gewohnheitsmässig aufklicken, wie sie das Monopolmedium (also die modifizierte TA-Site) oder die NZZ-Site aufklicken.

5. Zu erreichen ist das nur, wenn sich das auch wirklich lohnt. Darum braucht das Onlinemedium Neuigkeiten und Recherchen; Debatten, die auch für Andersdenkende interessant sind; Offenheit, die möglichst vielen eine Stimme gibt – aber bei all dem doch eine klare redaktionelle Steuerung: Die Qualität von Text und Bild soll gesichert sein, ein redaktioneller Diskussionsprozess mit einem Netz von Mitarbeitenden soll garantiert sein; die Acquisition von Diskussionsbeiträgen und journalistischen Recherchen soll aktiv und kontinuierlich betrieben werden etc.

6. Für den Anfang soll dieses Medien von zwei Redaktoren (ein Mann und eine Frau) mit einem Lohn von 50000.- brutto/Jahr betrieben werden. Eine dritte Person betreut für 20000.- brutto/Jahr Administration, Buchhaltung und Werbung. Weitere 20000.- sind reserviert für MitarbeiterInnen-Honorare; 10000.- schliesslich für Infrastrukturkosten (Miete Redaktionsbüro mit Sitzungsraum; Webmasterarbeiten etc.) Der Start des Mediums erfordert 150000.- im Jahr – das Geld soll auf dreieinhalb Jahre (mindestens bis und mit nächste städtische Wahlen) garantiert sein, damit ein Prozess in Gang kommen und die Wirkung des Mediums über einige Zeit kritisch verfolgt werden kann.

7. Dieses Geld – rund eine halbe Million Franken – sollen nicht von den rotgrünen politischen Parteien kommen. Politik und Publizistik haben auch dort, wo sie im Prinzip das gleiche wollen, eine andere Aufgabe und im Einzelfall unterschiedliche Interessen. Deshalb ist der kritisch-solidarische Umgang ohne materielle Abhängigkeiten das richtige Verhältnis. Das Geld soll so zusammenkommen: 500 Personen auf dem Platz Bern sind von der Idee zu überzeugen, dass dieses Medium nötig und deshalb ein jährlicher Obolus von 1000.- nicht übertrieben ist, die öffentliche Selbstverständigung unabhängig von zürcherischer Gewinnmaximierung und bürgerlich-bernisch schmuddeligem Kampagnenjournalismus zu garantieren.

(28.2.2009; 11.09.2017; 08.06.2018)

 

Nachtrag

Dieses Werkstück ist 2009 ohne weiteres in der Schublade verschwunden. Ohne dass ich dabei eine Rolle gespielt hätte, begann eine Gruppe von Leuten 2011 mit der Planung des elektronischen Mediums, das schliesslich den Namen «Journal B» erhalten hat. Für den 29. Juni wurde ich zu einem «Kickoff-Anlass» eingeladen. Ich habe teilgenommen und dem Projektteam tags darauf eine Rückmeldung gemailt.

«Bern, 30. Juni 2011

Lieber U.

ich bedanke mich für das Vertrauen, dass Du mich eingeladen hast, an der Informationsveranstaltung zum Medienprojekt ‘B-Seiten’ teilzunehmen. Ich schreibe Dir Nachfolgendes als Rückmeldung, weil ich ja während der Veranstaltung nichts gesagt habe. Nichts gesagt habe ich, weil ich bald einmal konfus wurde. Mir war vieles zu oberflächlich, zu unausgegoren und zu widersprüchlich. Passagenweise hätte ich fast zu jedem gesagten Satz Nachfragen oder Einwände gehabt.

Meine Meinung (abgesehen von der juristischen Konstruktion von Verein und AG, die sicher in Ordnung ist, davon verstehe ich nichts): Das Projekt ist publizistisch gut gemeint, aber ich glaube keine Sekunde daran, dass es längerfristig funktionieren könnte.

Und zwar aus drei Gründen:

1. Wer war an der Veranstaltung?

Die Falschen. Online-Informationsportale gibt es ja, wie gesagt wurde, schon viele und immer neue. Jene, die mit einem vergleichbaren Anspruch angetreten sind, wie ich ihn aus dem ‘B-Seiten’-Projekt herauslese, haben – soweit ich sehe – eine Gemeinsamkeit: Sie werden grundsätzlich von ausrangierten älteren Schurnis gemacht, die im neuen Medium ihr antiquierten Berufsverständnis als Printschurnis weiter pflegen, das dem 20. Jahrhundert verhaftet ist und mit der heutigen Medienrealität nicht mehr viel zu tun hat: Der Journalismus hat sich zwischenzeitlich von der kunsthandwerklichen Gesinnungstäterei von QuereinsteigerInnen gewandelt zur anonymen Industriearbeit von gut geschultem Personal, das sich klugerweise besser nicht auf eigene Meinungen kapriziert. Soweit ich sehe, haben wir da ein Stück kapitalistischen Fortschritt miterlebt: Dank einer Revolution der Produktionsmittel wird heute billiger und standardisiert für einen Allerweltsgeschmack produziert (mit dem Begleiteffekt von neuen Arbeitsteilungen und stärker entfremdeter Arbeit).

In der Printbranche ist dieses veränderte Berufsverständnis mit Kündigungen durchgesetzt worden: die älteren, teureren und technisch tendenziell schwerfälligen GesinnungstäterInnen wurden rausgestellt und nach einer kurzen Anstandsfrist durch junge, billige, computergewandte FliessbandarbeiterInnen ersetzt. Letztere sind die Schurnis des 21. Jahrhunderts.

Wie Du ja weisst, hat dieser Bruch im Berufsbild unter uns 20.-Jahrhundert-Schurnis zur tröstlichen Rede geführt, ein ‘professionelles’ Verständnis des Journalismus erlaube es uns erfahrenen Berufsleuten, fliegend vom Journalismus in die Public Relations zu wechseln, man müsse sich nur jeweils klar sein, welchen Hut man gerade trage. Das ist ein ideologisches Wendehalsargument und völliger Quatsch: Verständlicherweise wird kein Schurni insistieren, der hofft, im nächsten Jahr bei doppeltem Lohn auf der anderen Seite des Telefons zu sitzen.

In der Veranstaltung sassen gestern vor allem Leute im Alter von 45 bis 65, und soweit sie mir durch eine journalistische Praxis bekannt sind durchwegs Schurnis des 20. Jahrhunderts – zum Beispiel die Kollegin, die den Begriff ‘Hintergrund’ verteidigte mit dem Argument, ein solcher Stoff müsse ja im Netz nicht mehr als 6000, äh 5000, äh 3000 Zeichen umfassen. Das war tapfer. Aber die Sequenz zeigte: Schurnis unserer Generation vertreten einen obsolet gewordenen Begriff des Journalismus aus einem untergegangenen Zeitalter. Für seine Neulancierung sehe ich kein Zielpublikum. Das Votum des Kollegen, der von der Erfolglosigkeit des ‘Journal 21’-Portals erzählte, hat mich nicht erstaunt. Die aufklärerischen Bergpredigten von existentiell Frustrierten, deren Berufsverständnis – wie seinerzeit jenes der Typographen – völlig entwertet worden ist, interessiert heute niemanden mehr. Am wenigsten die Jungen. Die sind froh, dass zumindest in einer Branche die alten Säcke nicht auf allen Sesseln kleben bleiben.

Wir, unsere Jahrgänge, sind die Falschen. Zukunftsträchtige Online-Medien müssen heute, scheint mir, von jungen Leuten lanciert werden, die ihre aktuelle Medienerfahrung in clevere Angebote übersetzen, nicht von solchen die ihr obsolet gewordenes Berufsverständnis in neue Medien zu retten versuchen. (Wenn die Jungen uns in ihren Projekten brauchen könnten, wäre das schön. Aber vermutlich können sie uns nicht mehr brauchen, weil sie uns gar nicht mehr verstehen.)

2. Weltanschauliche Verortung

Das geplante Medium soll redaktionell unabhängig sein und sich gegen Rassismus und Sexismus stellen. Im übrigen, so C. P. (unwidersprochen), ist als redaktionelle Linie eine kritische Position ‘auch zur RGM-Machtstruktur’ erwünscht, allerdings ‘kritisch von links’, nicht von rechts. Wo wäre demnach, würde man das realpolitisch zu Ende denken, der weltanschauliche Ort dieser Redaktion? Bei der PdA Bern, mit einem Schuss Anarcho-Dadaismus von G. und einem Sprutz Fundamentalgrünheit von L.?

Ich denke, es war allen klar im Raum, wie es wirklich gemeint ist, es wurde durch T. G. und Deine optische Präsenz auf dem Podium ja auch so symbolisiert: Kommt das Projekt zustande, dann hat es nach ersten idealistischen Ausreissern ins utopisch Linke gar keine andere Chance als sich auf einen moderaten RGM-Verlautbarungsjournalismus einzupendeln (aufgemotzt mit einem inhaltlich ensuitemässig verbrämten Veranstaltungskalender für linksgrün vernetzte Kulturveranstalter). Warum? Du hast ja deutlich gesagt, wer als ‘B-Seiten’-Publikum in Frage kommt: jene 60 Prozent, die in der Stadt RGM wählen (das sehe ich auch so). Und wenn nun diese Leute naheliegenderweise mehrheitlich lieber SP und Grünes Bündnis wollen als PdA, G. und L.? Dann werden sie das früher oder später kriegen (denn sie bezahlen ja für ‘B-Seiten’). Und wenn das Projekt an diesem Punkt ankommt, wird mir P. noch einmal erklären müssen, was aus seiner Sicht ‘kritisch von links’ heisst.

Wohlverstanden, ich habe nichts gegen ein Medium, das die im Ganzen pragmatisch vernünftige Stimme von RGM verstärkt, bloss sollte man dazu stehen, dass hier die elektronische Renaissance der parteigebundenen Publizistik versucht wird, die im Zeitungsbereich auch auf der linken Seite weitgehend darum unterging, weil das Publikum davongelaufen ist.

3. Öffentlichkeit

Schliesslich geht das Projekt von einer Idee des kritisch unterbelichteten öffentlichen Raums aus, den es aus meiner Sicht so nicht mehr gibt. Gestern Abend wurde als möglicher Projekttitel ‘Breitseiten’ diskutiert. Eine Breitseite ist ein Feuerschlag von mehreren Kanonen in der Seeschlacht. Ein Medium, das sich ‘Breitseiten’ nennt, müsste demnach regelmässig und in möglichst kurzen Abständen publizistische ‘Breitseiten’ veröffentlichen können (ansonsten es dann schnell und hämisch als ‘Rohrkrepierer’ glossiert würde).

Du erinnerst Dich: Die Rede davon, dass es in der Stadt Bern nur so von heissen Primeurs wimmeln würde, wenn die repressiven bürgerlichen Zeitungen Bund und BZ nicht alles unterdrücken würden, gehörte ja bei uns auf der WoZ Bern in den achtziger Jahren zur autosuggestiven Motivationsrhetorik und spielte dann in den neunziger Jahren auch in den Kampagnen für die ‘Tagwacht’ und danach für die ‘Hauptstadt’ eine Rolle. Die journalistischen Resultate waren aber nicht so, dass ich heute denke, eigentlich hätten wir damals jede Woche einen Skandal lüpfen können. Eine Geschichte, die knallt, ist halt schon deshalb sehr aufwendig, weil sie auch auf rechtlicher Ebene standhalten sollte (entsprechend haben wir damals ja beide Erfahrungen gemacht mit Untersuchungsbehörden und Gerichten). Publizistische ‘Breitseiten’ sind personal- und arbeitsintensiv und für das hier vorgeschlagene Projekt nicht bezahlbar. Dass ‘B-Seiten’ solche Geschichten, die man auch heute noch verkaufen kann (und wegen des gehabten Aufwands verkaufen muss), gratis kriegt und sogar noch regelmässig, ist eine Illusion.

Aber das ist aus meiner Sicht das kleinere Problem. Das grössere: Solche Geschichten gibt es immer weniger, auch wenn ich als altgedienter Hobby-Verschwörungstheoretiker der letzte wäre, der bestreiten möchte, Bern sei weniger korrupt und hüte weniger tote Hunde als andere Städte. Aber: Der oben angesprochene Wandel des Schurni-Berufsbilds hat das öffentliche Feld, das journalistisch bearbeitbar ist, massiv eingeengt.

Warum? Du weisst es: Zu hunderten (vermutlich gar zu tausenden) haben in den letzten zwanzig Jahren 20.-Jahrhundert-Schurnis die Front gewechselt: Um leben zu können haben sie sich in den Dienst eines öffentlich agierenden Players gestellt mit dem Auftrag, funktionale Informationen mediengerecht aufzubereiten und offensiv in die redaktionellen Teile der Medien hineinzutragen und umgekehrt die Verbreitung von dysfunktionalen Informationen über den Player mit allen Mitteln zu unterbinden. Heute gehe ich davon aus, dass jedem recherchierenden Journalisten handwerklich gleichwertige Profis gegenüberstehen, die dafür angestellt sind, Öffentlichkeit nur dort zuzulassen, wo sie ihrem Arbeitgeber dient (darum habe ich ein gewisses Verständnis für die neue ‘Whistleblower’-Kampagne des «Beobachters», die alle Lohnabhängigen ermuntert, zu schnüffeln und zu denunzieren, was das Zeug hält – was voraussichtlich zumindest der ‘Beobachter’-Auflage nützen wird).

Kurzum: Die Public-Relations-Industrie hat in den letzten Jahrzehnten die Recherchemöglichkeiten im öffentlichen Raum teils eingedämmt, teils ganz verunmöglicht (Meienberg würde heute keine Fabrikreportagen mehr schreiben können). An diesem Punkt habe ich mich gestern Abend dann zu ärgern begonnen: Ausgerechnet der Kommunikationschef eines Bundesamts, also ein PR-Profi in höherer Kaderfunktion, postuliert, es sei Zeit für ein neues Medium, dessen Arbeitstitel ‘Breitseiten’ er offenbar mitträgt. Gleichzeitig verkündest Du, in dieser hermetisch verriegelten Rest-Öffentlichkeit sollten die heissen ‘B-Seiten’-Geschichten von einer sechsköpfigen Redaktion mit je einem 50 Prozent-Pensum produziert werden. Mit Verlaub, welcher 100%-Lohn ist vorgesehen? 4500.- brutto? oder gar 5000.-? Leben wird man vom 50 Prozent-Pensum vermutlich nicht können. Was aber Teilzeitarbeit in der Pionierphase eines journalistischen Projekts heisst, wissen wir beide.

Zusammengefasst: Dass zwei PR-Profis dem Plenum ein sechsköpfiges journalistisches Himmelfahrtskommando schmackhaft machen, das ohne existenzsichernden Lohn in einer Öffentlichkeit, die es so nicht (mehr) gibt, ein neues Medium mit fulminanten ‘Breitseiten’ aufgleisen soll, und zwar tendenziell mit einem Journalismusverständnis, das mit dem 20. Jahrhundert untergegangen ist, das hat mich tatsächlich eine Nacht lang nach Worte suchen lassen.

Ich sage nicht, dass ich mit Vorstehendem Recht habe. Gut möglich, dass ich mit vielem weit danebenliege. Zudem habe ich von Jahr zu Jahr weniger Spass am Diskutieren (ich war nie ein Redner, das weisst Du). Insofern sind diese Zeilen das, was ich als geladener Schurni zur laufenden ‘B-Seiten’-Debatte beitragen kann. Dass das eine oder andere von der Initiativgruppe genauer diskutiert werden möge, bevor sie sich öffentlich exponiert, möchte ich als höflichen Wunsch deponiert haben.

Bleibt die Frage, warum ich mich, wenn ich es so sehe, mit meiner Unterschrift trotzdem zur Zahlung von 500 Franken verpflichtet habe. Na ja. Weil ich auch ein 20.-Jahrhundert-Schurni bin und irgend so etwas wie ‘B-Seiten’ vorgeschlagen hätte, hätte man mich danach gefragt, was man heute medienpolitisch auf dem Platz Bern tun solle. Und weil ich natürlich hoffe, dass ich mich flächendeckend irre.

Mit solidarischen Grüssen

fl»

(30.06.2011; 11.09.2017; 08.06.2018)

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