Anders arbeiten

Ende der 1970er Jahre war die Selbstverwaltung noch ein zentraler Diskussionspunkt in der Auseinandersetzung um das neue Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokratischen Partei. Jetzt, zwanzig Jahre später, scheint sie ein antiquiertes Hochkonjunktur-Ideologem zu sein, auch wenn zum Beispiel wir bei der WoZ nach wie vor selbstverwaltet arbeiten. Dass das Thema aber auch innerhalb der WoZ nicht mehr zu den dringlichsten gehört, zeigt die Tatsache, dass man in den letzten zwei Jahren mich gebeten hat, das Editorial zur jeweils zum 1. Mai erscheinenden Beilage «Anders arbeiten» zu schreiben. Ich habe nun wirklich nicht den Ruf eines scharfsinnigen ökonomischen Kopfs. Aber es ist klar: Der ökonomische Blick auf die Welt fokussiert zur Zeit zu Recht anderes als das selbstverwaltete Arbeiten. Mir haben die beiden Aufträge Gelegenheit gegeben, die kulturelle Bedeutung dieser Arbeitsform ins Zentrum zu rücken.

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Editorial 1997: Unser Eigensinn, unsere Utopie

Vor dem Markt sind alle gleich. Fragt sich bloss, was dann eigentlich anders sei am anderen Arbeiten. Auch wir strecken uns ja nach der Decke. Wenn sich unsere Produkte nicht verkaufen, müssen auch wir rationalisieren, Preise und Löhne senken, im Notfall Stellenprozente streichen. Kann man das: Anders entlassen? Arbeitsbedingungen, die so sozial wie möglich sind, sind deswegen noch lange nicht sozial. Wer anders arbeitet, beutet sich selber freiwilliger aus. Kann man mehr sagen?

Zu befürchten ist, dass das andere Arbeiten im Kopf nicht nur beginnt, sondern auch dort bleibt und endet. Natürlich kennen wir unsere Sonntagssprüchlein: Wir sind lebendig und innovativ, wir sind ökologisch und sozialpolitisch fortschrittlich, und wir arbeiten so selbstverwaltet und basisdemokratisch wie möglich. Dagegen kann man mit dem besten Willen nichts sagen. Und auch dagegen nicht, dass wir uns diese Sprüchlein – wie jetzt hier – ab und zu ein wenig vorbeten: Irgendwie muss man sich ja motivieren für die niedrigeren Löhne und längeren Arbeitszeiten.

Aber wahr ist auch: Das andere Arbeiten hört nicht auf. Die WoZ-Beilage zum 1. Mai erscheint hier bereits zum zehnten Mal, und zwar diesmal mit Selbstdarstellungen von knapp 500 Betrieben, 20 Prozent mehr als im letzten Jahr, doppelt so viele wie vor fünf Jahren. Mit anderen Worten: Wir Spinner und Spinnerinnen werden immer mehr, die wir nicht arbeiten, um möglichst viel Geld zu verdienen, sondern möglichst genug Geld verdienen, um nach unserem Kopf weiterarbeiten zu können.

Sowas passt dem Markt nicht in den Kram: verteidigte Identität, Eigensinn. Mag sein, für die herrschende Ökonomie ist unsere Arbeit nicht sehr relevant. Aber dafür ist sie eine kulturpolitische Leistung. Ob man zuerst die FliessbandarbeiterInnen des kulturindustriellen Schrotts nennt, wenn man aus historischer Distanz nach dem Kulturschaffen dieser Jahre fragen wird, ist zumindest offen: In den Nischen unseres Eigensinns überlebt die Utopie. Durch unsere Praxis halten wir an den Rändern der Öffentlichkeit das Wissen wach, dass die Logik, die den Markt heute beherrscht, weder unbeschränkt noch unendlich ist.

Und nun: Frisch ran an die Säcke, Kollegen, Genossinnen. Wie gesagt, vor dem Markt sind wir alle gleich.

(17.04.+26.06.1997)

Editorial 1998: Es gibt eine Effizienz mit menschlichem Antlitz

«Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles», hat Rainer Maria Rilke geschrieben. Verse haben die merkwürdige Eigenschaft, dass sie ab und zu treffen, worauf sie nie gezielt haben. In der Tat: Wer spricht, anders arbeitend, heute noch von Siegen? Wer spricht noch davon, als Teil einer wachsenden Bewegung innerhalb der Gesellschaft an einer Gegengesellschaft mitzubauen? Nein wirklich: Überstehn ist alles.

Anders arbeiten? Haben nicht auch Linke in letzter Zeit vermehrt nur noch ein müdes Lächeln, wenn davon die Rede ist? Das ideologische Dogma, das quer durch den Kontinent und darüber hinaus jeden Eigensinn als schiere Unvernunft ausgrenzt, hat – wie mehr und mehr jede Parole der Macht – einen englischen Namen: «Shareholder value», Aktionärsnutzen. Es gebe nicht mehr verschiedene Arten zu arbeiten, sondern nur noch eine vernünftige. Und diese Art sei jene, sich in den Dienst des optimierten Aktionärsnutzens zu stellen. Und dazu sei, kurzum, die Effizienz zu optimieren.

Das andere Arbeiten jedoch stellt zuallererst das Primat der Effizienz in Frage: Man ist nicht so effizient wie möglich, um möglichst grossen Gewinn zu machen, sondern man arbeitet so rentabel wie nötig, um finanziell ausgeglichen abzuschliessen. Diese tendenzielle «Neutralisierung» der ökonomischen Ebene ist aber nur dann nicht einfach Ausdruck von Erfolglosigkeit, wenn sie sich in den Dienst von anderen Werten als jenem der Effizienz stellt.

Wozu arbeiten wir eigentlich? Nicht nur die SP müsste sich der Debatte um ihre Grundwerte stellen – auch die über 500 in dieser elften «Anders Arbeiten»-Beilage versammelten Betriebe müssen sie in Bezug auf ihre Arbeit immer wieder führen. Die WoZ zum Beispiel hat den Anspruch, nicht nur eine Zeitung zu machen, sondern auch ein Projekt anderen Arbeitens zu sein. Es gibt Werte, die für uns auf der Suche nach einer Effizienz mit menschlichem Antlitz wegleitend sind:

• Der eigene Betrieb soll so basisdemokratisch wie möglich aufgebaut sein. Aber: Je grösser er wird, desto notwendiger braucht er eine arbeitsteilige Organisationsstruktur und individuelle Sachkompetenz. Wo alle überall mitreden und mittun, entsteht wohl viel Gutgemeintes, aber Gutes wenig.

• Die Geschäftspolitik des Betriebs soll so kollektiv wie möglich mitbestimmt werden. Aber: Es kann nicht für jeden Filzstiftkauf ein Plenum einberufen werden, und auch das professionelle Leiten der täglichen Geschäfte ist ein notwendiger Job.

• Die eigene Arbeit soll so selbstbestimmt, hierachie- und konkurrenzfrei wie möglich sein. Aber: Arbeit, die sich dem Dienst am Projekt vollständig verweigert, ist wirkungslos. Soziale Kompetenz ist wichtiger als genialische Asozialität.

• Die Inhalte der Zeitung sollen so klar wie möglich unsere Fragen an die Welt spiegeln. Aber: Zeitungsinhalte festzulegen, ohne zu fragen, wen sie interessieren, ist naiv. Die Diskussion um die Maxime: Inhalt vor Marketing ist nie abgeschlossen.

• Die Entlöhnung soll so gerecht wie möglich sein. Aber: Auch die bei der WoZ praktizierte Lohngleichheit für das ganze Kollektiv ist nur relativ gerecht: Nicht alle haben die gleichen Lebenshaltungskosten und den gleichen familiären und sozialen Hintergrund.

Qualitative Werte sind keine unveränderlichen Grössen. Darum müssen sie in Auseinandersetzung mit ihrem «Aber» jeden Tag neu gewonnen werden. Einverstanden, das ist manchmal mühsam. Aber: Wer anders arbeitet, leistet sich den Luxus, Selbstverwirklichung nicht erst nach Feierabend in der Freizeitgesellschaft, sondern bereits während des Arbeitstags zu erproben. Und das ist ganz entschieden die sinnvollere Art zu arbeiten als mit geldscheffelnder Effizienz sich und andere kaputtzumachen.

(18.-20.4.1998)

 

Nachtrag 1

«Still fun in Utopia?»: Unter diesem Titel hat am 30. September 1997 in der Kunsthalle FRI-ART in Fribourg eine Podiumsdiskussion stattgefunden, an der ich für die WoZ teilnahm. Veranstaltet wurde der Anlass von der Buchhandlung «Lindwurm», die  ihr 20jähriges Bestehen feierte. Zur Diskussion stand das selbstverwaltete Arbeiten in Genossenschaften in wirtschaftlich härteren Zeiten.

Das Formulieren der nachfolgenden vier Thesen diente mir als Vorbereitung für den Abend; ich habe sie weder vorgetragen noch als Ganzes referiert. Sie stützen sich auf das Anders arbeiten-Editorial von 1997, nehmen jenes von 1998 voraus und bieten einen Satz, der mich zwanzig Jahre später betroffen macht: «Die Notwendigkeit von ökonomischer Neutralisierung in grossem Massstab könnte im nächsten Jahrhundert von fundamentaler ökonomischer und ökologischer Bedeutung werden.»

Folgendes habe ich im September 1997 notiert:

«1. Nischen der Unvernunft. – Der Kapitalismus ist das effizienteste Wirtschaftssystem, das wir kennen. Selbstverwaltete Betriebe leisten sich den Luxus eines wirtschaftlich ineffizienteren Systems zugunsten anderer Werte, weil diese ihnen wichtiger sind. Insofern zurzeit hierzulande und weltweit der Kapitalismus als einzig denkbare Vernunft erscheint, sind selbstverwaltete Betriebe gesellschaftliche Nischen der Unvernunft.

2. Was heisst Unvernunft? – Verschiedene strukturelle Eigenarten von selbstverwalteten Betrieben führen in letzter Konsequenz zur vermehrten ökonomischen Anfälligkeit:

a) Die Teilnahme aller Arbeitenden an der Geschäftspolitik des Betriebs führt zur Verkleinerung der Produktivität und Verlangsamung der Produktionsabläufe;

b) Entscheidungsstrukturen, die im guten Fall langsamer, jedoch demokratischer funktionieren als in hierarchisierten Betrieben, können in konfliktuösen Situationen den Betrieb weitgehend lahmlegen;

c) Bei ökonomischem Druck von aussen sind in einem Kollektiv von MitbesitzerInnen die Reaktionsmöglichkeiten des Betriebs eingeschränkt – insbesondere sind Entlassungen ausgeschlossen. Es bleiben Verbilligung der Produktion respektive Verteuerung des Produkts am Markt – oder Kürzung der eigenen Löhne.

So gesehen sind selbstverwaltete Betriebe in der Tat unvernünftig, weil sie den BetreiberInnen unter verschiedenen Aspekten das Leben schwer machen.

3. Werte gegen die Effizienz. – In selbstverwalteten Betrieben ist das Effizienzdenken auf den Kopf gestellt: Man ist nicht so effizient wie möglich, um möglichst grossen Gewinn zu machen, sondern man ist so effizient wie nötig, um finanziell ausgeglichen abzuschliessen. Diese ‘neutralisierte’ ökonomische Ebene dient als Fundament zur Realisierung anderer, nicht-ökonomischer Werte. Und zwar

 a) Gestaltung des eigenen Betriebs so basisdemokratisch wie möglich (aber: je grösser der Betrieb, desto notwendiger braucht es Organigramme, Arbeitsteilungen und Pflichtenhefte; allerdings werden sie nicht dekretiert, sondern in Diskussionen erarbeitet);

b) geschäftspolitische Leitung des Betriebs so kollektiv wie möglich (aber: es kann nicht für jeden Filzstiftkauf ein Plenum veranstaltet werden);

c) inhaltliche und formale Festlegung des zu verkaufenden Produkts so gemeinsam wie möglich (aber: beim Zeitungsmachen zum Beispiel können nicht alle alle Texte redigieren oder layouten wollen);

d) Entlöhnung so gerecht wie möglich (in der WoZ zum Beispiel herrscht Lohngleichheit im ganzen Kollektiv, das heisst in den drei Abteilungen Redaktion, Produktion und Administration. Der Einheitslohn beträgt 3400 Franken netto monatlich auf 100 Prozent);

e) Gestaltung der eigenen Arbeit so selbstbestimmt wie möglich (aber: narzisstische SologängerInnen sind in einem Kollektiv auf die Dauer chancenlos).

Das A und O jeder Selbstverwaltung, die diesen Namen verdient: Der Betrieb gehört allen, respektive die Produktionsmittel werden besessen von denen, die mit ihnen arbeiten.

4. Wir sind Avantgarde. – So unbedeutend selbstverwaltete Betriebe für die Gesamtökonomie des Landes sein mögen, so bedeutend sind sie in kulturpolitischer Hinsicht: Selbstverwaltete Betriebe sind Erfahrungsräume für widerständiges Denken und Handeln und Relaisstationen auf dem Weg zu gesellschaftlichen Utopien.

a) Die uneingeschränkt herrschende neoliberale Vernunft dekretiert: Am Markt überlebt nur, wer sich – hart gegen sich und gegen andere – zu behaupten vermag und deshalb alles der Effizienz unterordnet. Selbstverwaltete Betriebe erbringen jeden Tag den Tatbeweis: Es sind – trotz aller Widersprüche – Produktionsformen lebbar, die weniger Härte gegen sich und andere fordern und die Effizienz anderen Werten unterordnen. Oder anders: Es ist ein Arbeitsethos lebbar, das Kollektivität und Solidarität nicht von vornherein systematisch unterdrücken muss.

b) Die ‘Neutralisierung’ des Ökonomischen sowohl auf der Ebene des Gesamtbudgets (kein Gewinn) als auch auf jener des individuellen Einkommens (Lohngleichheit) macht in selbstverwalteten Betrieben einen Wert denkbar, der das scheinbare Naturgesetz des Kapitalismus vom unbeendbaren Wachstum in Frage stellt. Diese ‘Neutralisierung’ der ökonomischen Ebene, so habe ich in fünfzehn Jahren gelernt, ist keine Gotteslästerung, sondern ein vernunftgeleiteter Willensakt, genauer: ein politischer Entscheid. Was auf der Ebene einzelner Betriebe lebbar ist, soll gesamtgesellschaftlich zumindest diskutierbar werden: Die Notwendigkeit von ökonomischer Neutralisierung in grossem Massstab könnte im nächsten Jahrhundert von fundamentaler ökonomischer und ökologischer Bedeutung werden.

c) Das kulturpolitische Programm, für das die selbstverwaltete Arbeit steht, beinhaltet für mich folgenden zentralen Punkt: Identität und Wertvorstellungen der Menschen sollen nicht mehr im Dienst von Geld und Effizienz stehen, sondern Geld und Effizienz haben sich in den Dienst zu stellen von Identität und Wertvorstellungen der Menschen. Aus abgefuckten Konsum- und Kommerzjunkies sollen souveräne Menschen werden, denen der Markt dienen muss, ohne sie süchtig machen zu können. Diese Umwertung kann nicht von oben befohlen werden: Sie stellt sich ein in einer Welt mit grundsätzlich anderer Arbeits- und Lebenskultur. Am Aufbau einer solchen Kultur mitzuarbeiten ist für mich der kulturpolitische Sinn selbstverwalteter Arbeit.»

(29.09.1997; 23.08.2017; 03.06.2018)

 

Nachtrag 2

Eine kleine Reminiszenz: Nach der Veranstaltung in Fribourg traf es sich, dass ich im Zug mit einem Mitarbeiter der Buchhandlung «Lindwurm», den ich an jenem Abend kennengelernt hatte, nach Bern zurückfuhr. So bin ich mit Lukas Bärfuss zum ersten Mal ins Gespräch gekommen.

(23.08.2017)

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