Abschied vom freien Journalismus

1.

Eine berufliche Standortbestimmung. – Ich sage das ab und zu: Ich habe nicht zu schreiben begonnen, um Journalist zu werden – ich bin Journalist geworden, um schreiben zu können. Das hat mich in meiner Zunft von Anfang an zum Aussenseiter gemacht. Heute bin ich mit journalistischen Berufskolleginnen und -kollegen kaum mehr im Gespräch. Dafür gibt es einige unter jenen, die als Autorinnen und Autoren gelten, die mich behandeln, als wäre ich ihresgleichen.

Ich habe meine berufliche Arbeit stets ernst genommen und die Erfahrung, die ich letzthin mit dem Tageszeitung Bund gemacht habe, hat mich getroffen. Diese ehemals stolze freisinnige Zeitung ist heute nicht mehr viel mehr als ein Kopfblatt des Tages-Anzeigers. Für sie habe ich im Februar 2012 drei Texte geschrieben – Rezensionen über neue Bücher von Katharina Zimmermann und Clemens Klopfenstein und den Tagungsbericht über ein Symposium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Wenn ich den Lektüreaufwand als Arbeitszeit mitrechne, was ich als Berufsmann ja wohl muss, entspricht das Gesamthonorar von 750 Franken brutto einem Tagesansatz von höchstens 120 Franken, also höchstens 15 Franken brutto pro Stunde. Das ist etwas mehr als die Hälfte eines Bruttolohns, den man in der Reinigungsbranche verdient.

Selber schuld, könnte ich mir sagen, würdest gescheiter für die WOZ schreiben, mit der dich eine dreissigjährige Geschichte verbindet. Sie zahlt zwar nicht mehr als der Bund, aber immerhin würdest du dort nicht als himmeltrauriger Lohndrücker den Aktionärsnutzen der Tamedia-Eigentümer alimentieren. Darauf muss ich mir in Erinnerung rufen, warum ich für den Bund zu schreiben begonnen habe. Im Herbst 2011 stellte in bei der WOZ, für die ich damals als freier Journalist regelmässig arbeitete, den Antrag, mir wieder ein monatliches Fixum auszurichten, auf das ich Ende 2005 verzichtet hatte, weil die damals anstehende Arbeit an der C. A. Loosli-Werkausgabe zu gross war, um ein WOZ-Fixum weiterhin ehrlich abverdienen zu können. Wegen dieses Antrags wurde ich von der Redaktionsleitung auf den 17. November nach Zürich bestellt. Ich fuhr hin in der Annahme, es gehe um die Verhandlung der Bedingungen dieses Fixums. Hätte man es abgelehnt, dachte ich mir, hätte man mir das unter Verweis, kein Geld zu haben oder es anderweitig einsetzen zu wollen, mitteilen können, ohne mich nach Zürich zu bestellen. Es kam anders: Drei Kollektivmitglieder ohne Mandat der Gesamtredaktion konfrontierten mich hinter verschlossener Türe damit, dass man mit mir nicht weitergehend zusammenzuarbeiten wünsche. Begründet wurde der Entscheid mit Argumenten, die nicht nur meine berufliche, sondern auch meine persönliche Integrität in Frage stellten – und zwar, aus meiner Sicht, mit widerlegbaren Argumenten. Ich war perplex, reagierte verletzt und verordnete mir tags darauf als Freier der WOZ ein halbjähriges Timeout. Nach reiflicher Überlegung beende ich nun, in diesen Tagen, mein Engagement für die WOZ definitiv. Meinen Entscheid, beim Bund mitzuarbeiten, fasste ich nach dem Motto: Lieber den Feind von vorn, als den Freund von hinten.

Die Nischen für den freien Journalismus sind sehr klein geworden. In den nächsten Tagen werde ich 58, müsste also eigentlich noch sieben Jahre weiterarbeiten können bis zur Pensionierung und muss mir jetzt eingestehen, dass ich als freier Printjournalist, als der ich seit 2002 gearbeitet habe, am Ende bin. (Mit der Gewerkschaftszeitung «Work»[1] allein, bei der ich seit Jahren rund 15’000 Franken brutto pro Jahr verdiene, werde ich mich beruflich nicht halten können.)

[1] Die Mitarbeit bei Work habe ich Ende 2014 beendet, weil klar geworden war, dass ich 2015 einerseits als Co-Redaktor am zweiten Band der Chronik von Adelboden mitarbeiten und andererseits im Schweizerischen Literaturarchiv den Nachlass von Walter Vogt ordnen wollte. Als mich die Work-Redaktion im Herbst 2017 angefragt hat, ob ich wieder ab und zu ein Berufsporträt schreiben würde, habe ich nach längerer Bedenkzeit abgesagt. Meine Zeit des freier Printjournalist ist vorbei.

(31.03.2012; 22., 23., 30.05.+08.06.2018)

2.

Chancen und Risiken. – Die Situation ist nun so, dass sich vernünftigerweise mein Schreiben von der Krücke des Printjournalismus trennen muss, weil diese Krücke nicht nur seit jeher den freien Gang behindert hat, sondern nun auch nicht mehr trägt. Mein Problem ist, dass mich zwei irrationale Aspekte zaudern lassen.

• Zum einen haben mich schon immer materielle Existenzängste verfolgt, die in den letzten zwei, drei Jahren drängender geworden sind, obschon sie keiner realen Furcht entsprechen. Das Erbe meiner Eltern hat mir Wohneigentum ermöglicht, was bei den aktuell tiefen Zinsen das Wohnen günstig macht, und in Zukunft werde ich voraussichtlich nur noch wenige finanzielle Verpflichtungen haben. Rational betrachtet wäre es eigentlich schön, wenn man dereinst mit meiner letzten Tausendernote Sarg, Kremation und Urnenbeisetzung bezahlen könnte. Aber solch poetische Rationalität beeindruckt meine Ängste nicht.

• Zum anderen bedeutet für mich die Tatsache, dass ich mich im Printjournalismus nicht halten kann, eine narzisstische Kränkung, weil ich der Meinung bin, dass ich denn doch zumindest nicht schlechter schreibe als viele andere, die sich in der Branche halten können. Bloss geht es rationaler Weise darum nicht. Einerseits bin ich einer, der sich die Freiheit nimmt, relativ schnell nein zu sagen, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen, andererseits steht der freie Printjournalismus vor dem Kollaps. Im Rahmen der konjunkturellen und strukturellen Krisen haben die Medien in den Nullerjahren ihre Budgets für die Freien-Honorare weitgehend zusammengestrichen. Das hat mit der Frage nach meinen Schreibfähigkeiten nichts zu tun.

Kurzum: Ich klammere mich an einen Beruf, den es nicht mehr gibt, obschon ich materiell die Möglichkeit hätte, mir einen beruflichen Neustart zu finanzieren. Darüber hinaus gibt es einige Signale, dass für clevere publizistische Projekte sehr wohl Geldgeber zu finden wären. Falls ich die Existenzängste und die narzisstischen Kränkungen überwinden kann, habe ich noch eine berufliche Chance. Falls nicht, könnte es eng werden.

(01.04.2012; 20.+23.05.2018)

3.

Chronik meiner Abgänge im April 2012. – Am 16. April 2012 maile ich dem Feuilletonredaktor des Bund: «Ich war für einige Tage abwesend und habe mir unter anderem Gedanken gemacht über meine berufliche Zukunft. Ich habe entschieden, mich ab sofort vom freien Journalismus (bis auf das Work-Engagement) zurückzuziehen.» Tags darauf antwortet er per Mail: «Ich habe es fast befürchtet, habe aber alles Verständnis für Dich und Deine Situation. […] Wenn Du mal was Grösseres machen willst, einen auch finanziell etwas einträglicheren Hintergrund, dann melde Dich bitte.» Für meinen Entscheid massgeblich ist nicht zuletzt eine aktuelle Meldung: Der Tamedia-Konzern hat für das Jahr 2011 einen Rekordgewinn von knapp 179 Millionen Franken bekanntgegeben. Bei einem solchen Arbeitsgeber sind knapp 15 Franken Stundenlohn einfach zu wenig.

Ebenfalls am 16. April maile ich an den zuständigen Redaktor des «Langenthaler Tagblatts»: «Ich habe mich entschlossen, mich aus dem freien Journalismus zurückzuziehen (abgesehen von einem Auftrag in der Gewerkschaftspresse). Darum möchte ich mich hiermit auch als Kolumnist des Langenthaler Tagblatts ab sofort zurückziehen.» Am 23. April antwortet der Redaktor per Mail: «Werde das so weiterleiten und denke kaum, dass das Ärger gibt.»

Am 25. April schicke ich einen Brief zur Frage «Wie weiter nach dem Timeout» an die WOZ: «Unterdessen sehe ich für mich klar. Ich teile Dir deshalb mit, dass ich als freier Journalist für die WOZ nicht mehr zu Verfügung stehe. Ich bitte dich, die Redaktion soweit nötig von meinem Entscheid in Kenntnis zu setzen.» – Zwei Tage später ruft mich die zuständige Redaktorin ins Büro an: Sie möchte mit mir über die weitere Zusammenarbeit reden, nächstens sei ja diese Timeout-Zeit abgelaufen, ich würde mich sicher erinnern. – Ob sie denn nicht auf meinen Brief reagiere, ich hätte ihr vor zwei Tagen einen geschickt. – Davon wisse sie nichts. Ich wiederhole deshalb meinen Entscheid. Sie kann sich fassen und sagt, falls ich auf grössere Geschichten stossen würde, die aufwändig wären zu machen, dürfe ich bei ihr jederzeit einen Antrag stellen, dass die Arbeit unterstützt werde. Für mich sei die Zeitung jederzeit offen für solch grosse Geschichten etc. Ich bedanke mich für das Angebot. Mag ja sein, ich werde einmal froh sein darum. Und sonst ist es das gewesen.

(31.03.-27.04.2012; 23.05.2018)

4.

Berufsmelancholisches Abendessen. – Beim Zubereiten meines Abendessens höre ich auf DRS 2 ein Kontextgespräch über die politische Situation in Mali, moderiert von ck, der als angenehmer Kollege aus Basel auf die WoZ kam und dann, als junger Familienvater, für das Tages-Anzeiger-Magazin einige Zeit die Edelfeder spielte, bevor er zum Radio ging. Während jetzt das «Echo der Zeit» beginnt, blättere ich zum Essen den heutigen «Bund» durch. Heute morgen war ich nicht über die zweite Seite hinausgekommen, auf der der ältere Bruder von Niklaus Meienberg porträtiert worden war – Bruder von jenem Mann, der mich massgeblich gelehrt hat zu schreiben. Weiterblätternd stosse ich auf einen Beitrag von sm, die als Tagi-Redaktorin heute dem Bund die Aufschlagseite des Feuilletons vollgeschrieben hat über eine Schauspielerin, die Marilyn Monroe mime. Das schafft sm heute locker, die mich seinerzeit bat mitzukommen, als sie als frischgebackene WoZ-Kulturredaktorin Adolf Muschg interviewen gehen sollte. Einige Seiten weiter ein Text von rst, dem stellvertretenden Chefredaktor des Tagi, der dem Bund-Publikum ein Buch über garantiertes Grundeinkommen vorstellt. rst, der mich 1981 als redaktionelles WoZ-Gründungsmitglied gefragt hat, ob ich nicht der Infolink-Genossenschaft und der Redaktion beitreten wolle, was ich getan habe (für 1600 Franken brutto – allerdings erst, nachdem ich gut die Hälfte meiner Ersparnisse, 10’000 Franken, als Genossenschaftskapital hinterlegt und anschliessend über ein halbes Jahr abverdient habe). Als ich die Zeitung zusammenfalte, um noch ein Ohr voll «Echo» zu nehmen, erzählt aus Brüssel ub eben von einem bilateralen Abkommen der EU mit der Schweiz. Ein guter Journalist, an dessen Bewerbungsgespräch auf der WoZ ich seinerzeit als Mitglied des Redaktionsausschusses teilgenommen und seine Anstellung mitbefürwortet habe.

Ich schenke zur Feier des Tages ein Glas Rotwein nach und trinke auf meine berufliche Karriere als freier Journalist.

(17.04.2012; 22.05.+08.06.2018)

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