Wilhelm Tell für den Kindergarten

Unterwegs in Altdorf, während Walterli seine seit Jahrhunderten hinlänglich bekannte Frage stellt («Ätti, warum sagt Frisch, die Aufklärung scheitere am goldenen Kalb?»), sinnt Vater Tell einer kniffligen Frage nach: Wie werde ich Nationalheld der künftigen Schweiz? Tief in Gedanken versunken gehen Vater und Sohn auf dem Hauptplatz an Gesslers Hut vorbei, ohne ihn zu grüssen. Sie werden deshalb, wie bekannt, von habsburgischen Waffenknechten polizeilich angehalten. Gessler, der Landvogt, wird alarmiert, er fährt vor, vermutet beim Anblick des beträchtlichen Volksauflaufs, dass ein bestimmtes Auftreten geboten sei und befiehlt, vom Ausruf des Rechtsbrechers, als freier Mensch grüsse er keine kaiserlichen Hüte, zusätzlich genötigt, dieser müsse seinem Buben einen Apfel vom Kopf schiessen. Tell lässt sich nicht zweimal bitten, schickt seinen Walterli mit einem Granny Smith in den Zielhang, kniet nieder, nimmt ihn ins Visier und denkt: Treffe ich, bin ich ein Held, treff ich nicht, so bin ich keiner. Die Spannung steigt, schon schwingen die Fans Kuhglocken und stimmen einen Sprechchor an («Diese Schelle schellt für Telle!», da reagiert Gessler.

Geistesgegenwärtig hat er erkannt, dass sich die Kameras auf der Pressetribüne von ihm abzuwenden beginnen, um den jetzt verängstigten Walterli heranzuzoomen. Er entschliesst sich deshalb kurzfristig zur Öffentlichkeitsarbeit. «Genug, Tell!» ruft er, «ich kann’s nicht mitansehen, wie du herzlos auf deinen braven Buben schiessen willst!» Die Kameras schwenken reihenweise, im Volk raunt’s mächtig. Mit grosser Geste entsteigt Gessler seinem Jeep, schreitet zu Walterli hinüber, nimmt ihm den Apfel vom Kopf, schiebt den Buben zur Seite und ruft: «Wenn schon auf diesen Apfel geschossen werden muss, so schiess ihn von meinem Kopf!» (Blitzlichtgewitter.) Im Volk beginnen die ersten, habsburgische Fahnen zu schwenken und ein Vorwitziger skandiert über den Platz: «Gessler mit dem Apfel, das ist aber tapfel!» Tell, verunsichert, hat seine Armbrust sinken lassen, blinzelt ungläubig zum posierenden Gessler hinüber und macht sich blitzschnell folgende Gedanken: Treffe ich erstens die Birne statt des Apfels, dann – er beäugt aus den Augenwinkeln Gesslers lungernde Waffenknechte – lebe ich nur noch ein paar Sekunden. Das ist mir auch als Nationalheld nicht zuzumuten. Wenn ich zweitens vorsichtigerweise einen Sicherheitsschuss in die Wolken setze, geistert mein Name noch jahrhundertelang als Witz durch die Geschichtsbücher – das ginge mir ziemlich an den Stolz, immerhin bin ich ein Meisterschütze. Treffe ich aber am Ende drittens doch den Apfel, was relativ unwahrscheinlich ist, dann stehle ich dem Herrn dort drüben die Show, er wird ernstlich böse und wertet meinen Meisterschuss als missglückten Mordanschlag: Zwinguri lebenslänglich? Nein danke. Deshalb bleibt mir viertens nur noch… «Herr!», ruft also Tell, die Armbrust theatralisch von sich werfend, «ich kann’s nicht!» Die Kameras rattern ohrenbetäubend, die Weltgeschichte schluckt leer, Walterli ruft ärgerlich: «Aber Ätti, was ist jetzt mit der Landesverteidigung?» Die Landsknechte grinsen, grunzen und grölen und das Volk beginnt sich in die Beizen zu verteilen. «Bierkartell statt Wilhelm Tell!», singen die Älteren, «Zungenkuss statt Apfelschuss!» die Jungen. Gessler winkt zu den abziehenden Pressefotografen hinüber (Fotografinnen gab’s damals noch keine), gibt dem «Schöllener Boten» ein Kurzinterview, holt den Apfel vom Kopf, wirft ihn dem Walterli zu, ruft: «Iss, Bub, so wirst du gross und stark!», weist die Waffenknechte an: «Nehmt den Hut herunter, die Presse ist weg!» und tritt zu Tell: «Mach dir nichts draus! Immerhin hast du deine Haut gerettet und den Geschichtsklitterern geben wir zu Protokoll, der getreue Untertan Tell sei durch die unsterbliche Geste seines Herrn auf den Pfad der Tugend zurückgeführt worden.» Tell steht zerknirscht. «Nimm Deinen Knirps mit», sagt Gessler jovial, «ich gebe einen aus». Und geht voran. Tell stapft seufzend hintendrein.

Ein Kleinbus voller Polizeigrenadiere braust Richtung Flüelen davon. Im Stübli des Gasthofs Rütli bestellt Gessler zwei grosse Humpen sauren Mosts, für Walterli süssen, und plaudert: «Nun ja, Tell, was soll’s? Hätt’ ich dich schiessen lassen auf den Buben da, man hätte mich zum Bösewicht gemacht in alle Ewigkeit. So aber habe ich die Presse glatt auf meiner Seite, du verstehst, und dich hab’ ich im Griff auch ohne Apfelschuss.» Er lacht und sagt: «Krisenmanagement, nichts weiter.» Tell schweigt und Gessler plaudert: «Siehst du, Walterli, so ist die Welt im Lot und keiner tot.» Walterli bohrt in der Nase und ruft frohgemut: «Jawoll, verehrter Landesvater, aber warum glauben die Erwachsenen eigentlich alle an den lieben Gott, wo es doch keinen gibt, so wahr die Welt rund ist?» Gessler stutzt: «Was sagst du da?» Tell wittert weitere Widrigkeiten und langt dem Walterli eine, dass es knallt. Gessler schmunzelt: «Die Hellsten müssen wir am strengsten halten, gell Tell.» Jetzt schweigt der Bub und die beiden Männer kommen ins Gespräch: Erziehungsprobleme.

(20/21.04.1991, 03.07.1997; 16.05.2018. – Abgedruckt in: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur. Nr. 54, Zürich (Haffmans Verlag) 1998, S. 94-96.)

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