Vom Schenken

Ich bin in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen, der Vater machte Karriere: vom Blue Collar zum White Collar in einer Textilfabrik, die kurz nach seiner Pensionierung geschlossen wurde, weil Asien billiger produziert. In meinem Elternhaus wurde mit eiserner Regelmässigkeit alljährlich Weihnachten gefeiert; nicht aus Gründen der Religion, sondern aus Gründen des Rituals.

Seit ich mich erinnern kann, ist mir das Austauschen von Geschenken bei diesen erweitert familiären Treffen immer von quälender Peinlichkeit gewesen. Irgendeinmal nach zwanzig habe ich die Schenkerei einseitig für beendet erklärt und werde seither strafweise weiter beschenkt.

Die Peinlichkeit, so wie ich sie heute sehe, besteht darin, gegenseitig Geld in beliebige Waren umzutauschen, diese dann zu verschenken und so zu tun, als wisse man nicht, dass man mit dem ausgegebenen Geld gleich für sich selber hätte beliebige Waren kaufen können (was man aber nicht täte, weil man ja diese Waren eigentlich gar nicht braucht).

Dieses sinnentleerte Ritual ist gesellschaftlich konnotiert als kapitalistisch vermittelte Verabfolgung einer Notration «Liebe», wobei gilt: Wer in Relation zum Einkommen mehr ausgibt, liebt intensiver. Und wer nicht schenkt, beweist seine Lieblosigkeit. Damit habe ich zu leben.

(31.12.1990; 24.01.1991; 18.03.1998, 17.08.2008; 11.+29.05.2018)

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