Stoffe (wofür?) I: Die Vision von Jegenstorf

Zeno Zürcher erzählt: Auf einer Velotour mit seiner Freundin seien sie in Jegenstorf vorbeigekommen. Sie hätten beim Schloss Halt gemacht, die Velos abgestellt, durchs offenstehende Tor den Schlosspark betreten, schliesslich sich auf einer Terrasse an einen dort stehenden Tisch gesetzt und zu picknicken begonnen, ohne dass sie von einer Menschenseele gestört worden wären. Das zweihundertjährige Gebäude inmitten der wunderschönen alten Bäume habe sie gefesselt und begeistert.

Eine Woche später sei er mit dem Auto in der Gegend von Jegenstorf unterwegs gewesen und habe plötzlich das Bedürfnis gehabt, noch einmal den Schlosspark zu betreten. So habe er sein Auto parkiert und sei neben dem kleinen Bahnhof den Weg zum Schloss hinunter gegangen. Kaum habe er den Park betreten, sei ihm ein vielleicht sechsjähriges, in einem sehr bunten, reifrockartigen Kleid steckendes Mädchen entgegengerannt. Es habe verzweifelt geschrieen, es wolle weg, es wolle hier nicht bleiben, es komme nie mehr hierher zurück etc. Während das Kind an ihm vorbei zum Eingang des Parks gerannt sei, sei vom Schloss her ein Mann aufgetaucht, habe ihn, Zürcher, zwar gesehen, aber «nicht wahrgenommen», habe nach dem Kind gerufen, auf es eingeredet und es schliesslich soweit beruhigen können, dass es mit ihm zum Schloss zurück gegangen sei.

Er, Zürcher, sei spazierend im Park verweilt, habe sich dann auch dem Schloss genähert und plötzlich hinter einem Mauervorsprung südamerikanische Musik gehört. Er habe eine laut aufgedrehte Stereoanlage im Innern des Schlosses vermutet, sei weitergegangen und hinter dem Mauervorsprung plötzlich vor folgender Szenerie gestanden: Am Tisch seien bei Essen, Wein und diskreter Konversation etwa dreissig sehr graue, grau gekleidete Männer und Frauen gesessen, auch das Mädchen im bunten Kleid habe er entdeckt. Neben dieser Gesellschaft seien mehrere südamerikanische Musiker gestanden, die lachend und tanzend Anden-Musik gespielt hätten. Obschon diese Musiker vor begeisternder Lebensfreude gesprüht hätten und ihm die Musik in die Arme und Beine gefahren sei, habe die graue Tischgesellschaft in keiner Weise darauf reagiert.

Er habe sich an die Mauer des Schlosses gelehnt, einige Zeit unbeachtet zugeschaut und sei dann durch den Park zum Bahnhöfchen hinauf und zu seinem Auto zurückgegangen. Zweifellos, fuhr Zürcher fort, könne man in Jegenstorf ein Gästebuch finden und nachlesen, wer diese Gesellschaft gewesen sei. Trotzdem ist er überzeugt, dass ihm «die Vision von Jegenstorf», wie er sie nannte, zuteil geworden sei. Blitzartig klargeworden sei ihm, dass unsere Welt von grauen Toten in Kulissen des Todes regiert werde, die heute noch die Macht hätten, jedes Leben, wo es auch auftauche, herbei zu zitieren und sich dienstbar zu machen. Das Mädchen aber habe ihn am längsten beschäftigt: Sein Lebenswille habe es flüchten lassen bis zum Schlosstor, bevor es der graue Vater zurückgeholt habe.

(21.01.1994; 19.12.2001; 29.05.+10.06.2018)

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