Hirngunst

Ich träumte: Eine junge Lehrerin steht vor der Klasse, in der ich unter lauter Erwachsenen sitze. Sie will mit uns ein Lied singen, das ich bereits kenne und tritt zwischen die Pulte, möglicherweise um Gesangbücher zu verteilen. Schnitt. Jetzt sitzt diese Lehrerin auf einer Treppenstufe vor der Klasse und sagt: «Ich gehöre zu jenen Menschen, die eine Hirngunst ziehen.» Es handelt sich, so wie ich es empfinde, um eine grundsätzliche Aussage, die beeindrucken soll, und ich verharre in der schweigenden Klasse noch einen Augenblick in respektvoller Ratlosigkeit, bevor ich erwache.

Unterdessen, anderthalb Stunden später, sitze ich im Zug nach Zürich. Die Formulierung der Lehrerin ist mir nach wie vor wörtlich im Gedächtnis und auch, dass die Aussage im Traum von einer Art esoterischen Bedeutungsschwere war: Obschon ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach, war mit der Aussage ihre grundsätzliche Überlegenheit endgültig begründet.

 

Nachtrag

Möglicherweise habe ich eine Situation geträumt, die ich in Wirklichkeit verschiedentlich erlebt und immer als ausserordentlich verletzend empfunden habe. Konkret erinnere ich mich zum Beispiel, dass ich während der Zeit im Lehrerseminar einmal beim Singlehrer dieser Institution – nennen wir ihn X. – zuhause war. Dieser wohnte ebenfalls in Roggwil und galt im Dorf als ein in dunkler und geheimnisvoller Weise gelehrter Mann. Verschiedentlich hörte ich munkeln, er amte in den noblen anthroposophischen Kreisen des Oberaargaus als eine Art Priester. Seine Singstunden am Seminar gebrauchte er ab und zu zur ideologischen Indoktrination, die der Fremdenfeindlichkeit, wie man damals sagte, gewidmet war und geistige Wurzeln der Geburt und Herkunft geltend machte, wenn gesagt werden sollte, die Sizilianer auf den Baustellen sollten endlich abfahren und dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen seien. Item.

Bei diesem Mann war ich ab und zu, weil wir einige Male öffentliche Auftritte probten. Als begabter Halbwüchsiger spielte ich jeweils barocke Blockflötensonaten, die er auf dem Cembalo oder auf dem Klavier gekonnt begleitete. Nach einer Probe in seinem Haus sassen wir uns an seinem Schreibtisch gegenüber, warum weiss ich nicht mehr. In seinem Rücken türmte sich eine beeindruckende Bücherwand und weil dieser Mann eben als so unglaublich gebildet und als intimer Kenner metaphysischer Realitäten galt, wollte ich mich anbiedern und zitierte – um zu zeigen, dass ich auch schon einiges wisse – in einem mir halbwegs passend scheinenden Zusammenhang Shakespeares Hamlet: «Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, / Als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.»

Nie vergesse ich, wie X. auf diese altklug-naive Anbiederung reagiert hat: Er lachte. Und zwar war dieses Lachen von einer derart überlegenen Amüsiertheit, dass ich auf der Stelle hätte in den Boden versinken mögen vor Verletztheit und Scham.  Zweifellos gehörte auch dieser Mann zu jenen Leuten, «die eine Hirngunst ziehen».

(18./19.12.1998; 15., 29.05.+.10.06.2018)

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