1.
Klärung. – Die Aufklärung schweige, klagen seit Jahrzehnten viele. Aber was soll sie denn sonst tun? Nie haben ja die Wörter aufgeklärt. Dem, was zu sehen ist und dem, was erlitten wird, sind Wörter stets nachgestellt. Sprache ist das eitle Echo von Aufklärung: akustisches Rankwerk, in dem die Pharisäer der Welt turnen wie die Affen im Dschungel. Aufklärung redet nicht, sie tut.
2.
Januskopf. – Was von vorn wie Utopie aussieht, ist von hinten Illusion. Dass man alt wird, merkt man daran, dass man die Illusionen nicht mehr von hinten anschauen mag.
3.
Politische Public Relations. – Da es nicht wünschbar ist, dass JournalistInnen aus Überzeugung die Öffentlichkeit dysfunktional beeinflussen, ist es nötig, sie zur Funktionalität zu manipulieren, bevor sie zu arbeiten beginnen. Der Rest ist Meinungsäusserungsfreiheit.
4.
Das Beste. – Die Jugend verschlingt achtlos das Beste und fabuliert über den Tellerrand vom kommenden Himmel. Das Alter geniesst, was auf den Tisch kommt. Vom Himmel hat es für dieses Leben genug.
5.
Matthäussiebensechs. – Viele, die bibelfest ihre Perlen nicht vor die Säue werfen wollen, sind längst selbst zu Schweinen geworden.
6.
Kinderlos. – Lieber Leichen, schreit er, weiben, / als meinesgleichen weiterschreiben.
7.
Sparpolitik. – Die Staaten müssen sparen. Fragt sich bloss, ob zuerst bei den Armeen oder bei den Armen. Sie beginnen bei den Armen. So ist doch schon ein Buchstabe gespart.
8.
Friedenspolitik. – Warum erschiessen? Verdursten lassen genügt.
9.
Besitzstandssteigerung. – Das ist mein Eigendumm, und das ist dein Eigendumm. Und zusammen sind wir zwei Eigendümmer.
10.
Nachfrage zu meiner Mündigkeit. – Bin ich nun eigentlich Herr und Meister in meinem Körper oder führt das Tier in mir den überheblich brabbelnden Kopf spazieren wie eine Mutter ihren Säugling: der Körper als Kinderwagen?
11.
Ursache und Wirkung. – Wie man sich bettet, so liegt man: Ich wollte so werden. Ich bin so geworden. Manchmal möchte ich nicht so sein.
12.
Reden hilft im Leben weiter, schreiben im Kopf. Ich habe mich entscheiden müssen. Darum bin ich im Leben nicht weiter gekommen.
13.
Ferien sind schön. Wer es vermag, macht Ferien. Je mehr man es vermag, desto mehr Ferien kann man machen. Wer es vermag, hat immer Ferien. Wer es vermag, braucht keine Ferien, weil er sie immer hat. Wer immer Ferien hat, ist frei. Freie Menschen brauchen keine Ferien. Ferien sind Hofgänge für die Knechte. Darum finden Knechte Ferien schön. Aber schöner wäre es, Ferien nicht schön finden zu müssen.
14.
Reisemuffel. – Wo ich nichts zu suchen habe, werde ich nichts finden. Wer hat schliesslich mehr gesehen? Jener, der immer wieder Anderes immer wieder gleich oder jener, der immer das Gleiche immer wieder anders gesehen hat?
15.
Es prüfe, wer sich ewig bindet,
ob er nicht eine Schere findet.
Und findet er beim Suchen keine,
wird er noch merken, was ich meine.
16.
Artikel 16 Bundesverfassung: Meinungs- und Informationsfreiheit – Vorschlag für eine Aktualisierung:
17.
Wissen und Glauben. – Das Wissen führt in das Schweigen, weil es das Gegenüber mit dem Nichtwissen konfrontiert. Der Glaube führt in die Gemeinschaft, weil er das Gegenüber ermutigt zum wissensfreien Rechthaben.
18.
Kleine Elegie. – Glück ist die Trauer darüber, dass das Leben manchmal schön ist. Oder heisst es besser: Trauer ist das Glück darüber, dass das Leben manchmal nicht schön ist?
19.
Der liebe Gott und ich. – Seit wir nicht mehr aneinander glauben, lassen wir uns leben.
20.
Porträtkunst. – Soweit ich sehe, sind die Menschen desto mehr vom Tod gezeichnet, je mehr sie vom Leben gezeichnet sind. Da ist jemand mit raffinierter Maltechnik am Werk.
(07.02.1994; bis 17.+30.12.2011; 01.01., 07.02., 18.02., 21.03., 24.03., 28.04, 21.07., 01.08., 15.09.2012; 13.01., 20.09., ?.10., 2013; 25.06., 05.07.2014; 05.05.2015; 22.03.; 18., 19., 31.05.; 13.06.; 15.11.2018. – Die 20 Sätze wurden nach inhaltlichen Kriterien neu angeordnet. So zeigen die chronologisch geordneten Daten bloss, zu welchen Zeiten ich an diesen Sätzen gearbeitet habe – nicht aber, wann an welchem.)