Seenachtsfest der Classe politique

Die Welt des Politischen ist eine grosse Bühne, verstellt mit einem Labyrinth von Kartonkulissen und potemkinschen Dörfern, hinter denen die Feuerwerker jeder politischen Couleur unentwegt Feuerwerkskörper zum Abschuss vorbereiten und sie mit nicht immer durchschaubaren Motiven – manchmal gleichzeitig mit anderen, die aus befreundeten Kulissen aufsteigen, manchmal als Antwort auf solche aus gegnerischen – zünden und so ein permanentes Seenachtsfest veranstalten. Ein grosses, manchmal unterhaltendes Theater, das nicht nur vorgibt, Wirklichkeit zu sein, sondern sogar behauptet, Wirklichkeit zu verändern.

In der Tat weiss ich oft nicht, was ich mehr bewundern soll: die Betriebsamkeit, die nie ermüdende Geschäftigkeit, der rotohrige Aktivismus hüben und drüben oder das grandiose Verpuffen all dieser Bemühungen im rasch verglimmenden Funkenregen der Bonmots politischer Kommentierung. Seit ich dieses Spektakel in der schäbigen Loge mitverfolge, in der man als «linker» Journalist sitzt, und längst ohne hinzuschauen, nur aus dem Abschusswinkel und der Art des Knalls eines Feuerwerkskörpers zu schliessen weiss, wann man «Bravo» und warum man «Pfui» zu rufen hat (und das, manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Begeisterung tatsächlich tue), ist in mir ein sich schärfendes Bewusstsein dafür entstanden, dass sich die Welt nie am Himmel oben verändert: So fulminant die Feuerschweife sind, die diese Geschosse in den Himmel zeichnen, ihre Wahrheit ist immer die Nacht, die sie für einen Moment zu verbergen versuchen.

In letzter Zeit kommt es ab und zu vor, dass ich mich ermuntern möchte, das Theater zu verlassen und hinauszugehen, um nachzuschauen, wie sich die Welt tatsächlich verändert. Denn das in jedem Moment revolutionär neue Seenachtsfest bezweckt nur eines: die Gegenwart der Feuerwerker zu verewigen.

(18.09.1994; 17.08.2017)

 

Nachtrag 1

Bemerkenswert ist für mich jetzt, elf Jahre später, wie unbelastet ich damals den Begriff der «Classe politique» gebraucht und damit offensichtlich gleichermassen sämtliche Vertreterinnen und Vertreter der formellen und institutionalisierten Politik bezeichnet habe. Seither hat die SVP den Begriff breitenwirksam anders besetzt und in den Dienst ihrer pseudooppositionellen Rhetorik gestellt. Unterdessen meint «Classe politique» die Regierungsparteien ohne die rechtsnationale «Opposition» der SVP.

Kreuze ich die Suchbefehle «Christoph Blocher» und «Classe politique», so findet die Internet-Suchmaschine als erstes einen Aufsatz von Etienne Strebel/swiss info vom 28. November 2003, der Blochers Populismus so charakterisiert: «Jemand, der ‘denen da oben’, der ‘Classe politique’, mal die Meinung sagt, scheint dem Volk zu gefallen. Blocher und seine Partei vermitteln den Eindruck einer in sich stimmigen, konsequenten Politik.»[1]

[1] Noch einmal zwölf Jahre später zeigt die Suchmaschine bei den gleichen beiden Suchbegriffen als erstes ein «Blick»-Interview mit Blocher vom 9. Mai 2014 an, in dem der Interviewte unter anderem sagt: «Bundesrat, Parlament und jetzt auch das Bundesgericht versuchen, die Stimmbürger auszutricksen. Diese Classe politique, zu der leider auch einflussreiche Verbände und Firmen gehören, ist eine selbsternannte Obrigkeit.»

(25.08.2005; 17.08.2017)

 

Nachtrag 2

Im Zusammenhang mit der Wahl von Donald Trump hat man im Winter 2016/17 dessen Sieg als Niederlage der US-amerikanischen Elite diskutiert. Der Begriff der «Elite» machte in den folgenden Wochen auch in den grossen schweizerischen Medien die Runde. Thematisiert wurde ein Unbehagen in der hiesigen politischen Kultur. Dabei wurde «Elite» synonym mit «Classe politique» verwendet. Auch der unterdessen 77jährige Blocher passte sich in seiner Rede an der Albisgüeti-Tagung vom 20. Januar 2017 dieser Mode an: «Die Elite hat vergessen, dass nicht sie, sondern die Mehrheit der Stimmbürger letztlich das Sagen hat.»

Was ich mich frage: Ist meine vulgärmarxistische Rede von den Herrschenden und den Beherrschten, die in «Werkstücken» der neunziger Jahre auftaucht, differenzierter, als jene Blochers von der Classe politique oder jene der grossen Medien, die eine Saison lang nach der Elite fragten? Alle drei Begriffe thematisieren holzschnittartig die Tatsache, dass menschliches Zusammenleben immer als hierarchische Pyramide der Macht organisiert wird – wobei «Herrschaft» den Bedeutungsakzent auf ökonomische, «Classe politique» auf politische und «Elite» auf gesellschaftliche Macht legt. Dass das ideologische Geschäft mit diesen Begriffen in der Öffentlichkeit gewöhnlich ein zynisches ist und die schärfsten Kritiker der Elche gewöhnlich selber welche sind, ist ein anderes Thema.

(16.+17.08.2017; 08.05.2018)

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