Das Ärgernis Neutralität

1.

Grosse wirtschaftliche Umwälzungen: Im Hinblick auf den Europäischen Wirtschaftsraum 1992 muss die Schweiz schleunigst «europafähig» respektive «eurokompatibel» werden. Dabei ist die Wiener-Kongress-Neutralität des Landes störend. Sie muss nun abgeschafft respektive – nicht zuletzt im Hinblick auf die etwas zu langsam wegsterbende Aktivdienstgeneration – so modifiziert werden, dass sie den ökonomischen Interessen, um die es jetzt geht, nicht mehr im Weg steht. Gesucht ist also «Neutralität» als vaterländisches Lokalkolorit, als ideologische Krücke für alle, die nicht mehr mitkommen (wollen). Selten so instruktiv und nachvollziehbar wie jetzt, zwei Jahre vor der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992, wird nun der innen- und aussenpolitisch bisher zentrale Begriff «Neutralität» von oben umgewertet und neubesetzt: Das Wort wird renoviert, die Bedeutung des Begriffs wird von den herrschenden Interessen[1] neu festgelegt. So wird Sprache «gemacht» von jenen, denen sie gehört.

Ironie: Vor einem knappen Jahr wurde mit der Armeeabschaffungsinitiative der GSoA ein Angriff von links gegen die «bewaffnete Neutralität» versucht, wobei weniger die Neutralität als ihre Bewaffnung zur Diskussion gestellt worden ist. Die Herrschaft signalisiert nun, was für sie ansteht: die Abschaffung der Neutralität, jedoch nicht der Bewaffnung. Letztere wird selbstverständlich weiterhin benötigt – die Bundesverfassung sagt’s und die Bürgerlichen sagen’s zurzeit öffentlich nicht gern laut – zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Innern, also zur Aufstandsbekämpfung.

Es trifft sich für die Herrschaft gut, dass der irakische Angriff auf Kuwait vom 2. August 1990 und dem schweizerischen Anschluss an die weltweiten Wirtschaftsboykottmassnahmen gegen den Irak[2] die sanfte Beiseiteschiebung des «Neutralitäts»-Dogmas unauffällig fördert: In diesen Tagen geht es ideologisch wie geschmiert.

Schon scheint es keine Gründe mehr zu geben, dem freisinnigen Nationalrat Ulrich Bremi zu widersprechen, wenn er sagt: «Die Neutralität passt nicht mehr zu den Fragen, die sich uns heute stellen.» Und die schiere Vernunft scheint aus dem Staatssekretär Klaus Jacobi zu sprechen: «Der neutrale Staat kann aus seiner Neutralität kaum noch Vorteile ableiten.» Aus solchen Signalen der Herolde der Herrschaft destillieren die LohnschreiberInnen der bürgerlichen Blätter – zum Beispiel Konrad Stamm im «Bund» – ihre opportunistischen Leitkommentare: «Wir brauchen die Neutralität nicht gleich über Bord zu werfen. Aber wir sollten uns wieder bewusst werden, dass Neutralität kein Dogma, sondern ein zum Vorteil und zum Nutzen unseres Landes anzuwendendes Werkzeug der Aussenpolitik ist. Dieses Werkzeug gilt es – in einer jetzt dringend zu führenden Diskussion – der Gegenwart anzupassen und auf die Zukunft vorzubereiten. Wir brauchen eine solidarische, euro-kompatible, von unnötigen Zwängen befreite und sich auf die grundlegenden militärischen Pflichten beschränkende, aktive und zeitgemässe Neutralität, wenn die Schweiz im vereinten und gestärkten neuen Europa und in einer Welt, deren Probleme nicht kleiner werden, erfolgreich bestehen will.»[3]

[1] Soll man in einer Demokratie überhaupt von «Herrschaft» und «herrschenden Interessen» sprechen? Selbstverständlich. Bewirkt denn diese Demokratie in Bezug auf die Machtausübung nichts? Doch (obschon die bürgerliche Demokratie noch lange keine «Volksherrschaft» ist): In dem Masse, in dem Macht hierzulande weniger antisozial und gewalttätig ausgeübt wird als andernorts, kommt sie die Durchsetzung ihrer selbsterhaltenden Logik und der Ansprüche der Herrschenden teurer zu stehen (Demokratie muss sozusagen unter Public-Relations-Aufwendungen für die Maschine abgebucht werden, die die herrschenden Interessen durchsetzt). Es fragt sich, ob sich die Herrschaft der Schweiz eine «Demokratie» leisten würde, wenn sie für dieses Land – das über die Transmissionsriemen des wirtschaftlichen und kulturellen Imperialismus von den ärmeren Ländern der Welt massgeblich alimentiert wird – zur Vortäuschung der eigenen wirtschaftlichen Überlegenheit, dem Mythos der überdurchschnittlich tüchtigen Schweiz, nicht notwendig erschiene.

[2] Dem Wirtschaftsboykott gegen das südafrikanische Apartheid-Regime hat sich die Schweiz nicht anschliessen mögen. Dort sind eben die wirtschaftlichen Interessen anders gelagert (Goldhandel etc.).

[3] Ganzer Abschnitt: Bund, 11.08.1990.

(13.08.1990; 16.08.2017; 08.05.2018)

2.

Anlässlich seiner Eröffnungsrede zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft am 10. Januar 1991 in Bellinzona hat Bundespräsident Flavio Cotti nun noch ganz anderes zur Diskussion gestellt. Fragwürdig geworden sei «unsere Unabhängigkeit», «unsere Neutralität», «unsere Defensivarmee», «unser republikanischer Egalitarismus», «die direkte Demokratie», «unser Föderalismus» und «unsere Mehrsprachigkeit». Zusammenfassend hat er gesagt: «In Tat und Wahrheit sind in Friedenszeiten noch nie gleichzeitig so viele schweizerische Konstanten, aus denen wir bis heute die Daseinsberechtigung der Schweiz hergeleitet haben, zur Diskussion gestanden.»[1]

Unterdessen sind – mit der ideologischen Generalmobilmachung ganz Westeuropas und dem Ausbruch des Golfkriegs im Januar – auch die Friedenszeiten vorbei. Darum titelt «Bund»-Redaktor Konrad Stamm nun stramm: «Krieg als ‘Systemveränderer’» und schreibt, am aussenpolitischen Horizont zeichneten sich Herausforderungen ab, «denen sich die Schweiz nicht wird entziehen können und die sie in ihrer heutigen Verfassung nicht meistern wird». Noch schreibt er nicht: «mit ihrer heutigen Verfassung». Aber auch für ihn stehen «unsere Neutralität», «unsere sicherheitspolitische Theorie» und «unsere demokratischen Institutionen» zur Diskussion. Zu seiner Schweiz-Demontage gibt er folgende Ausführungsbestimmungen: «Eine Neutralität als Ausdruck der Distanzierung, Enthaltung und Nichtteilnahme wird in einem vereinten und gestärkten neuen Europa die Bewährungsprobe nicht bestehen. […] Im sich zuspitzenden Nord-Süd-Konflikt gehört unser Land von Natur aus zur Partei des reichen und industrialisierten Nordens.» «Neutralität» bedeutet also neu Parteiergreifen, und zwar auf Seiten der materiell Privilegierten. «Unsere sicherheitspolitische Theorie» jedoch soll in eine reformierte Armeepraxis münden: «Die Zeichen der Zeit [weisen, fl.] in Richtung radikal verkleinerter, modern ausgerüsteter, hochmobiler, vielfältig einsetzbarer und zu haftpolizeilichen Aufgaben befähigter Streitkräfte.» Polizei mit Panzern – Aufstandsbekämpfung, wie gesagt. «Unsere demokratischen Institutionen» jedoch seien nur noch hinderlich, denn ihre «Entscheidungsabläufe vermögen mit dem Takt, der in anderen Staaten und in internationalen Gremien – nicht zuletzt in der Europapolitik – angeschlagen wird, nicht mehr Schritt zu halten.»[2]

Wenn es die Herrschaft will, so ist in diesen Wochen zu lernen, werden internationale politische Ereignisse – ob «europäische Integration», ob «Krieg am Golf», ob «sowjetische Übergriffe in den baltischen Staaten» – zu zwingenden Anlässen für eine Systemveränderung. Solange die Herrschaft dies nicht wollte, waren es vergleichbare Ereignisse schon deshalb nicht, weil die Schweiz «neutral» war. Ganz egal, was in den nächsten Jahren geschehen wird, alles wird zum Vorwand dienen können, um die Schweiz opportunistisch auf Europakompatibilität zu trimmen. Mit der Befreiung der Märkte wird die politische Demontage einhergehen. Ideologische Erklärungen für das ökonomisch Notwendige finden sich immer.

[1] WoZ Nr. 3/1991.

[2]  Ganzer Abschnitt: Bund, 26.01.1991.

(04.02.1991; 16.08.2017; 08.05.2018)

3.

Januarnachlese. Am 12. Januar 1991 antwortet der Staatssekretär Klaus Jacobi in einem Radiointerview auf die Frage, ob im Kriegsfall US-amerikanischen und britischen Militärflugzeugen das Überfliegen des schweizerischen Luftraums gestattet würde, er «möchte das nicht ausschliessen», es gelte, «die Neutralität zu überdenken, auch wegen der Entwicklung in Europa». Hans-Peter Brunner, Mitverfasser einer vom Bund in Auftrag gegebenen Studie zur Vereinbarkeit von EG-Mitgliedschaft und Neutralität, schreibt: «Das Argument, eine in die NATO integrierte Schweiz würde die westliche Solidarität und Abhaltekraft – und notfalls Abwehrfähigkeit – zum Wohle ganz Westeuropas stärken, ist nicht leichterhand vom Tisch zu wischen.»

Aufgrund solcher Äusserungen fragt sich Oskar Scheiben in der WoZ: «Abschied von der Neutralität – gleich auch der NATO beitreten?»[1] Der NZZ-Inlandchef Hugo Bütler konstatiert in einem vorsichtig tastenden Leitartikel: «Die traditionellen Verhaltensregeln des dauernd Neutralen, wie sie sich angesichts von zwischenstaatlichen Konflikten ‘klassischer’ Art entwickelt haben, reichen nicht mehr aus.» Im Bezug auf den Nahostkrieg werde eine «differentielle Neutralität» praktiziert; konsequente Solidarität bei wirtschaftlichen Sanktionen und ebenso konsequente Enthaltung bzw. Gleichbehandlung der Konfliktparteien im Militärischen. Mit Blick auf die voranschreitende Integration Europas «entfallen allmählich die Entstehungsgründe und die klassische Rolle des Neutralen als Gleichgewichtsfaktor zwischen nationalen Machtgruppierungen»: «Je mehr sich die Staaten integrieren und auch aussenpolitische Kompetenzen an eine supranationale Gemeinschaft abtreten, desto stärker treten Sinn und Funktion der Neutralität in der europäischen Staatenwelt in den Hintergrund.»[2]

[1] WoZ, Nr. 3/1991.

[2] NZZ, 26.01.1991.

(07.02.1991; 16.08.2017)

 

Nachtrag 1

Soweit ich die innenpolitische Debatte zur Frage der Neutralität seit diesem «Werkstück» von 1990/91 überblicke, geht es nach wie vor darum, das vermutlich unbestreitbar Richtige, was Büttler damals zur Dialektik zwischen supranationaler, europäischer Aussenpolitik und schweizerischer Neutralität schrieb, der hiesigen Öffentlichkeit beizubringen. Die öffentliche Meinung wird aber, so scheint es, solange nicht gedreht werden können, wie die vor 1965 bis 1970 politisch bewusst gewordenen Jahrgänge nicht weggestorben sind – was voraussichtlich noch dreissig bis vierzig Jahre dauern wird. Man kann eine Bevölkerung nicht über ein halbes Jahrhundert mit Geistiger Landesverteidigung im allgemeinen und mit dem Dogma der bewaffneten Neutralität im speziellen indoktrinieren und zwanzig Jahre später sagen, die Sache habe sich jetzt erledigt. Wer Ideologie sät, wird Blindheit gegenüber Neuem ernten – auch wenn die Vernunft auf seiner Seite ist. Das wissen Linke seit Generationen – Bürgerliche scheinen das in Bezug auf die Frage der Neutralität zurzeit zu lernen.

(01.-10.10.1997; 2.4.1998)

 

Nachtrag 2

Am 18. April 1999 nimmt das schweizerische Stimmvolk eine neue Bundesverfassung an. Darin erscheint der Begriff Neutralität zweimal, aber diskret: In der Liste der «weitere[n] Aufgaben und Befugnisse» der Bundesversammlung (Artikel 173) und in den bundesrätlichen Zuständigkeiten im Bereich «Äussere und innere Sicherheit» (Art. 185). In beiden Artikeln geht es gleichlautend um «Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz». Höher mag man zurzeit die neutralitätspolitische Maxime «Mischt Euch nicht in fremde Händel!» von Niklaus von Flüe (1417-1487) nicht hängen. Immerhin ist die Option Europa noch nicht definitiv vom Tisch.

(16.08.2017)

 

Nachtrag 3

Heute, am 6. August 2006, veröffentlicht der emeritierte Politikwissenschaftler Alois Riklin aus gegebenem Anlass einen Frontalangriff gegen den unerträglichen neutralitätspolitischen Opportunismus des Bundesrates. Letzterer zeigt, wie stark sich die Diskussion seit den frühen neunziger Jahren verschoben hat und dass die Kraft hinter dieser Verschiebung einen Namen trägt: Christoph Blocher.

Blocher, 1990/91 als SVP-Nationalrat noch in der Defensive, sitzt unterdessen seit bald zweieinhalb Jahren im Bundesrat und unter seiner Führung haben die rechtsnationalen Kräfte des Landes den EU-Beitritt nicht nur als linke Subversion, sondern auch als freisinnige Begehrlichkeit zum realpolitischen Tabu gemacht. Blocher sagt – es ist gerade wieder einmal ein Krieg im Gang, der von den Medien als eigener betrieben wird: Israel scheitert beim nachgerade staatsterroristischen Versuch, die als Staat im Staat mit Guerillamethoden operierende Hizbullah im Südlibanon in Grund und Boden zu bombardieren –, Blocher also sagt, es sei nichts als «Geschwätz», von «aktiver» Neutralität zu reden und gleichzeitig für internationale Zusammenarbeit und mit Statements gegen Verletzungen des Gewaltverbots und für das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen einzustehen (wie das die SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey tut und deshalb von der opportunistischen Mehrheit des Bundesrates zurückgepfiffen worden ist). Blocher plädiert – und ist damit in der Regierung und vermutlich auch in der schweizerischen Bevölkerung mehrheitsfähig – für eine «umfassende» Neutralität, im «Alleingang» und unter Verzicht auf öffentliche Stellungnahmen (dafür soll man weiterhin als Transitland für amerikanische Waffenlieferungen an die israelische Armee fungieren).

Riklins ätzender Kommentar: Neutralität heisse hierzulande zurzeit «Maul halten, Geschäfte machen und kuschen vor der Weltmacht USA». «Neutralität» als feiger Opportunismus der Geschäftemacher: Was uns Nachgeborene an der Neutralitätspolitik während des Zweiten Weltkriegs empört hat, ist wieder salonfähig. Freilich war die von wirtschaftsfreisinniger Seite vorgetragene Relativierung des «Neutralitäts»-Begriffs in den frühen neunziger Jahren, die mir damals zu recht suspekt gewesen ist, kein Votum für das solidarische Einstehen für Genfer Konvention und humanitäres Völkerrecht, sondern eines für den möglichst unbeschränkten Zugang zum neoliberalen Weltmarkt. Der Streit um die Definitionsmacht am Begriff wird demnach von zwei wirtschaftlich unterschiedlich ausgerichteten Kapitalfraktionen unter sich ausgetragen: zwischen der «internationalistischen» des Freisinns und der rechtsnationalen der SVP. Der Streitpunkt: Welche Version der «Neutralität» ist die lukrativere? Linke Zwischenrufe – wie Calmy-Reys in diesem Fall ­– sind bestenfalls störend und schnell vergessen.

(06.08.2006; 16.08.2017; 08.05.2018)

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