Der unsterbliche Wixer Diogenes

In Padua hat, meldete gestern die Nachrichtenagentur dpa, ein 40jähriger Arbeiter über Notruf nach der Polizei verlangt, weil seine Frau die ehelichen Pflichten nicht erfüllen wolle. Die herbeigeeilten Carabinieri hätten sich allerdings ausser Stande gesehen, die Frau im Rahmen des Gesetzes zum Liebesakt zu zwingen. Gewöhnlich lauten solche Meldungen anders: Wohl ungefähr einmal pro Woche bringt in der Schweiz ein Ehemann seine ganze Familie, seine Frau oder seine Ex-Frau und meistens auch sich selber um – gewöhnlich mit Schusswaffen, häufig mit dem Sturmgewehr –, und zwar meist aus ebendiesem Grund: der Verzweiflung darüber, dass sich die Frau emotional und körperlich verweigert.[1]

Soziologisches lässt sich leicht anführen: von der unaufhaltsamen Emanzipation der Frau bis zur Verunsicherung des Mannes über seine sich ändernde soziale Rolle in Zeiten des bröckelnden Patriarchats – vernünftig klingende Argumente allesamt. Jedoch gibt es auch das Argument der gesellschaftsfähigen männlichen Sexualität. Sie postuliert den Mann als zivilisiertes Wesen mit Vorbehalt. Zwei Nischen behält er sich vor, in denen er Tier sein darf: die Nische des Kriegs und jene des Betts. Auch wenn er eine Ehe eingeht, seinen Lohn heimbringt, sich an Hausarbeit und Kinderbetreuung beteiligt und seine Zivilisiertheit in tausend alltäglichen Dingen immer neu unter Beweis stellt: Die Sexualität ist ein biologisches Bedürfnis, das den Mann schicksalshaft anfällt und zu dessen Befriedigung im Fall von Heterosexualität die Frau beizutragen hat. Hier gilt – als Erfüllung von Liebe beschönigt – das Recht des Stärkeren, hier gibt es eine Grauzone zwischen forcierter Freiwilligkeit und schierer Vergewaltigung, und ist das Tier im Mann von Zweifeln angekränkelt, ob private Gewalt fruchtet, so ruft es nach der Staatsgewalt, worüber dann männiglich beim Morgenkaffee über die Zeitung gebeugt grinst.

Zweifellos ist die männliche Sexualität ein Bedürfnis. Dass jedoch die Frau sich in dessen Dienst zu stellen hätte, ist Ideologie (wie es auch die im Patriarchat freilich nicht relevante Umkehrung des Arguments wäre). Sexualität ist ein biologisches Bedürfnis wie atmen, trinken oder essen. Wer nicht mehr atmet, lebt noch einige Minuten; wer nicht mehr trinkt, einige Tage; wer nicht mehr isst, einige Wochen – und wer seine Sexualität nicht lebt, kann zwar uralt werden, aber möglicherweise mit verkrüppelter Seele. Wer seiner Seele Sorge tragen will, muss demnach seine Sexualität leben, wie er atmet, trinkt oder isst: Es geht um die Befriedigung eines biologischen Bedürfnisses.

Diese Befriedigung geschieht mittels Masturbation – Selbst-Befriedigung: Nichts anderes ist ja in einem vegetativ-animalischen Sinn atmen, trinken und essen auch. Im Unterschied zu diesen Selbstbefriedigungen war jedoch jene der Masturbation seit Menschengedenken mit einem Tabu belegt. Ein in den letzten Jahren gedrucktes Lexikon geht zwar entwicklungspsychologisch argumentierend davon aus, dass die Masturbation von erwachsenen Menschen zugunsten des «normalen Geschlechtsverkehrs» überwunden werde, sieht sich im übrigen aber veranlasst, darauf hinzuweisen, dass Masturbation «nicht gesundheitsschädigend» sei: «Daher ist es verfehlt, sie bei den Kindern als eine Krankheit oder Störung hinzustellen; erzieherisch unangebracht ist es auch, die M. als Sünde oder als Laster zu brandmarken.»[2] Solches zu sagen ist deshalb auch heute noch notwendig, weil jenem, «der sein Geschlecht missbraucht», die gesetzlich und institutionell abgestützte sexuelle Zucht in den christlichen Gesellschaften über viele Jahrhunderte «die fortschreitende Erschöpfung des Organismus, de[n] Tod des Individuums, die Zerstörung seiner Rasse und schliesslich die Schädigung der ganzen Menschheit» androhte.[3]

Vorchristlichen Kulturen war die moralische Tabuisierung der Selbstbefriedigung offenbar fremd und noch von der alttestamentlichen Geschichte des Onan ist keine rigide christliche Sexualmoral abzuleiten. Onan war Sohn des Juda. Juda hatte dessen älteren Bruder Er mit Thamar verheiratet. Als Er starb, verlangte Juda von Onan, dass er mit Thamar die Pflichtehe vollziehe und so seinem verstorbenen Bruder Nachkommen schaffe: «Aber da Onan wuste / das der same nicht sein eigen sein soll / wenn er sich zu seines bruders weib leget / lies ers auff die erden fallen / und verderbets / auff das er seinem bruder nicht samen gebe.»[4] Weil diese quasi familienpolitische Verweigerung Gott missfällt, lässt er Onan im folgenden Vers kurz und bündig sterben. Eine moralische Verurteilung der «Onanie» als sexueller Tat sucht man jedoch vergeblich.

Nun gibt es allerdings im Altertum mindestens noch einen übermittelten spektakulären Fall von Masturbation. Wenn im alten Griechenland der Kyniker Diogenes «das Bedürfnis hatte, seinen sexuellen Trieb zu befriedigen, erleichterte er sich selbst, auf öffentlichem Platz», und zwar, wie Michel Foucault den Chronisten Diogenes Laertius referiert, habe Diogenes gesagt, wenn es nicht schlecht sei zu essen, dann sei es auch nicht schlecht, in der Öffentlichkeit zu essen.[5] Mit seiner provozierenden öffentlichen Selbstbefriedigung machte er als «‹gestische› Kritik» die Analogie des Hungers zum sexuellen Trieb klar: «So wie der Kyniker die Nahrung suchte»,  kommentiert Foucault, «die seinen Magen am einfachsten befriedigen konnte […], so fand er in der Masturbation das direkteste Mittel, um sein Gelüst zu stillen»[6]: Der griechisch-römische Arzt Galen hat später die Geste des Diogenes so interpretiert: Ohne erst auf die Prostituierte zu warten, die er zu sich bestellt habe, habe der Philosoph sich selbst von dem ihm lästigen Saft befreit, «ohne die Lust zu erstreben, die diese Entleerung begleitet». Dies sei die Tat eines keuschen Menschen gewesen, denn diese «gebrauchen Sinneslüste nicht um der damit verbundenen Wollust willen, sondern um eine Unpässlichkeit zu kurieren, so als gäbe es in Wirklichkeit keinerlei Wollust.» Einem an Satyriasis Erkrankten empfiehlt Galen als therapeutische Massnahme, «sich körperlich freizumachen, indem er das angesammelte Sperma ausscheidet»[7] – Masturbation also als therapeutische oder präventiv als hygienische Massnahme zur Regulierung des körperlichen Wohlbefindens.

Wenn klar ist, dass Masturbation auf der biologischen Ebene ein simples hygienisches Problem ist, das jede und jeder für sich regeln muss, dann ist auch klar, dass das Problem des Arbeiters von Padua kein biologisches, sondern ein soziales war: Er rief die Carabinieri nicht deshalb, weil ihm von seiner Ehefrau die sexuelle Befriedigung vorenthalten worden wäre, sondern weil sie sich ihm verweigerte. Diese Verweigerung aber war so legitim wie es jene war, die Onan praktiziert hat (der strafende Gott, der Onan dafür sterben liess, ist ein plumper Deus ex machina der damaligen Gesetzesgewaltigen, die mit dieser Episode die Idee der Pflichtehe als gottgewollt erscheinen lassen wollten).

Aber Masturbation vermag doch das biologische Bedürfnis der Sexualität nicht restlos zu befriedigen! Ist der Zweck des sexuellen Triebs denn nicht ein genuin biologischer, nämlich die Erhaltung der Art? – Nein. Der Zweck des sexuellen Triebs in seine Befriedigung. Der sexuelle Akt zwischen zwei erwachsenen Menschen und als Spezialfall davon die Zeugung eines Kindes sind dagegen entweder Folge von gewalttätigem Zwang oder aber Folge einer gütlichen Übereinkunft der an dieser Zeugung Beteiligten – in jedem Fall aber ein sozialer Akt, zu dessen Verwirklichung der Körper als biologischer bloss teilhat.

[1] Bund, 15.09.1997. – Meine Schätzung damals war ungefähr um das Doppelte zu hoch. Die 2006 erstmals vorgelegte Studie des Bundesamts für Statistik untersuchte die Jahre 2000 bis 2004 und kam zum Ergebnis, dass in der Schweiz im «häuslichen Bereich jährlich 28 weibliche und männliche Opfer ums Leben kommen; 21 Frauen werden von ihren Partnern oder Ex-Partnern umgebracht, 4 Männer von ihren Partnerinnen; 88 Prozent der Tatverdächtigen sind Männer. (Bund, 13.10.2006).

[2] Das Neue Taschenlexikon, Band 10. Gütersloh (Bertelsmann) 1992, S. 103.

[3] Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993, S. 4f.

[4] 1. Mose 38,9 in Martin Luthers Übersetzung.

[5] Wörtlich heisst es bei Diogenes Laertius: «Er pflegte alles in voller Öffentlichkeit zu tun, sowohl was die Demeter betrifft, wie auch die Aphrodite. Darauf bezieht sich folgende Schlussfolgerung: Wenn es nichts Absonderliches ist zu frühstücken, so ist es auch auf dem Markte nicht absonderlich, nun ist aber das Frühstücken nichts Absonderliches; folglich ist es auch nicht absonderlich auf dem Markte. Und da er häufig öffentlich Onanie trieb, sagte er:  ‘Könnte man doch so durch Reiben des Bauches sich auch den Hunger vertreiben.’» (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. 2 Bände. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2008, S. 300f.)

[6] Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste, a.a.O., S. 72f.

[7] Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993, S. 180+183.

(16.09.1997; 26.04., 02.+07.05.2018)

v11.5