Im Diskurs des sozialen Sprachuniversums ist der Antagonismus zwischen Leben und Tod neutralisiert: Der Tod liegt ausserhalb dieses Diskurses, weil jene, die den sozialen Diskurs führen, immer leben und Tote in einem solchen Diskurs keine Interessen wahrnehmen. Im sozialen Diskurs ist deshalb immer vom Leben die Rede, noch wenn er vom Tod anderer oder vom späteren eigenen Tod handelt. Insofern ist der Diskurs um die Gerechtigkeit beschränkter als der existentielle um Leben und Tod; letzterer diesem übergeordnet, weil grundsätzlicher, obschon er ihm entstehungsgeschichtlich nachfolgt und deshalb über keine eigene Sprache verfügt. Das bedeutet: Was die eigene Existenz grundsätzlich betrifft, kann nur uneigentlich gesagt werden, weil die vorausgegangene Sprache des sozialen Sprachuniversums eigentlich dafür nicht vorgesehen ist.
Umgekehrt ist der Antagonismus zwischen Recht und Unrecht im existentiellen Diskurs irrelevant, weil dessen Bezugsgrösse nicht die Welt des zumindest theoretisch Politikablen ist, sondern die Welt der Fatalität. Er handelt auf der Suche nach Wahrheit von dem, was in einem bestimmten historischen Moment als Schicksal, also als nicht politikabel gilt. Wo der existentielle Diskurs Schicksalshaftes erkennt, erkennt der soziale gesellschaftliche Bedingungen und Zufall.
(24.+25.10.2004; 05.+16.04.2018)
Zwischen Politikablem und der Fatalität liegt eine Grauzone. Die Grenzlinie wird dauernd verschoben durch das technisch Machbare und das politisch Opportune. In den letzten Jahren verfolge ich mit, wie durch die allmähliche Zerstörung der politisch erkämpften, flächendeckenden Netze in Bereichen der Sozial- und Gesundheitspolitik Politikables allmählich wieder von einem Schein naturbedingter Fatalität überzogen wird. Für Leute, die kein Geld haben und sich trotzdem ein Leiden leisten oder herausnehmen, alt zu werden, soll vieles wieder Schicksal werden, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozialpolitisch abgefedert war.
In unseren Gesprächen ist H.s sprechendes Beispiel an diesem Punkt jeweils, dass die Lebenserwartung der Menschen in Russland seit dem Untergang der Sowjetunion um zehn Jahre gesunken sei. George W. Bush seinerseits hat am 3. Februar 2005 die Teilprivatisierung der Alters- und Hinterlassenenversicherung «Social Security» zum Ziel seiner zweiten Amtszeit erklärt (NZZ, 04.02.2005), am 7. Februar hat er daraufhin den Entwurf zum US-Haushalt 2006 vorgestellt: Steuersenkungen für die Reichen, 4,8 Prozent mehr Militärausgaben, Sparmassnahmen im Bildungssektor und bei den Umweltprogrammen («Bund», 08.02.2005)
Worum es in dieser Grauzone zwischen politischer Verantwortung und Schicksal geht, hat Bertolt Brecht im «Lob des Revolutionärs» umschrieben mit den Versen: «Und wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede ist / Wird er die Namen nennen.»
[1] Bertolt Brecht: Gedichte 2 (Gesammelte Werke 9). Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1967/1976, S. 466f.
(09.02.2005; 05., 16.+23.04.2018)
Für die Programmvorschau im Frühling 2005 des Rotpunktverlags habe ich zu meinem darin angezeigten Lyrikband «Echsenland» einen Textvorschlag formuliert. Der letzte Abschnitt, der nicht aufgenommen worden ist, hat gelautet:
«Als Motto für der Sammlung ist die fressende Echse eine soziale Metapher und zugleich eine existenzielle: Sie steht nicht nur für eine Welt, in der die wachsende Ungleichheit täglich selbstverständlicher wird, sodass heute schon wieder von Schicksal die Rede ist, wenn der Stärkere den Schwächeren auffrisst, während er in die Sonne blinzelt – sie steht auch für die Zeit, in deren Schlund langsam der eigene Lebensrest verschwindet.»
(12.2004)