Temperierte Sprache

Johann Sebastian Bach hat in seiner Präludien- und Fugensammlung «Das wohltemperierte Klavier» gezeigt, dass durch Temperierung der Instrumentenstimmung – durch die gleichschwebende Temperatur von zwölf in gleichem Abstand voneinander befindlichen Halbtönen ohne reine Intervalle ausser der Oktave – in allen Tonarten Musik gemacht werden kann, weil das Ohr die durchgehende Unreinheit korrigiert.

Heute geht es zur Wahrung meiner beruflichen Perspektive darum, mir zu zeigen, dass durch Überwindung des Anspruchs auf ein Eigenes als das Poetische an der Sprache – dieses Eigene als das Beharren auf einer singulären, sozusagen aus lauter reinen Intervallen gewonnenen Tonart – das Sprechen «in allen Tonarten» möglich wird, wobei die durchgehende leichte Verstimmung der temperierten Sprache nicht die Inhalte verändern soll und so Lug und Trug strategisch integriert, sondern sich einzig deshalb verstimmt, weil sich die Sprache an ihren kommunikativen Aspekt entäussern muss, um als journalistische zu funktionieren.

(23./25.06.1993; 20., 27.03.+03.04.2018)

 

Nachtrag 1

Dieser Definitionsversuch von temperierter Sprache ist als Metapher originell, ansonsten bleibt er dunkel. Klar ist, dass Sprache temperiert werden soll, damit sie auf allen denkbaren Ebenen kommunizieren kann, Sprache am Gegenpol des «kommunikativen Tods» sozusagen.

Die kommunizierende Sprache hat dafür die diplomatische Rede entwickelt – ein herrschaftstechnologisch elaborierter Jargon, mit dem es möglich sein soll, zu widersprechen, ohne anzuecken und offen zu reden, ohne von Unbefugten verstanden zu werden. Aus der postmodernen Ästhetik könnte man zudem eine Form der temperierten Sprache ableiten, die man als «simulakrische Rede» bezeichnen könnte. Sie wäre ein parodistisches Reden, das ein originales nachahmt, das es nie gegeben hat.[1]

[1] Nach Frederic Jameson geht der Begriff «Simulakrum» auf Platon zurück und bezeichnet eine «identische Kopie von etwas, dessen Original nie existiert hat» (Frederic Jameson: «Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus», in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg [rowohlt] 1986, S. 63.)

[13.11.2001; 20.03.2018)

 

Nachtrag 2

Vom Sprachverständnis her, das sich in den Werkstücken spiegelt, könnte eine wohltemperierte Sprache allerdings auch ohne dunkle Metaphorik beschrieben werden. Zum Beispiel so:

Weil das, was Sprache bedeutet, immer die Summe der Machtverhältnisse ist, die sich in den Begriffen und Satzstrukturen eingelagert haben, muss man erstens festhalten, dass an der wohltemperierten Stimmung jederzeit gearbeitet wird von denen, die die Macht haben, öffentlich auf die Konnotationen der Begriffe und die Bedeutungen der Satzstrukturen Einfluss zu nehmen.

Und zweitens darf man feststellen, dass es ist wie bei der wohltemperierten Stimmung der Instrumente, wo «das Ohr die durchgehende Unreinheit korrigiert», wie es im Werkstück heisst: Das Hirn der Knechte ist so konditioniert (wozu sonst soll denn staatsbürgerliche Erziehung dienen?), dass es die durchgehende und täglich ein bisschen ändernde Wohltemperiertheit der Herrschaftssprache ganz selbstverständlich adaptiert und daraufhin korrigiert, mit Inbrunst das von der Obrigkeit mit grösster Wahrscheinlichkeit heute Gewünschte verstehen zu wollen.

(20.+27.03.2018)

 

Nachtrag 3

Den Nachtrag 2 habe ich letzte Woche, während der redaktionellen Überarbeitung des Werkstücks, geschrieben. Nun, beim Hochladen, habe ich zu zweifeln begonnen: Soll ich diesen Nachtrag 2 nicht besser streichen? Gestrichen habe ich schliesslich bloss den letzten Satz, eine Klammerbemerkung, die mir allzu polemisch erschien: «(Gegen diesen Mechanismus gleicht der Versuch, mit wohlgesetzten Sonntagspredigten Aufklärung betreiben zu können, dem Versuch, mit vernünftigen Argumenten einen Tsunami ins Meer zurückreden zu wollen.)»

Aber hinter der Frage: Streichen oder nicht? steht eine andere, die mir interessant genug scheint, um statt zu streichen zu erweitern. Es geht darum: Bin ich heute tatsächlich der im Nachtrag 2 apodiktisch vertretenen Meinung oder habe ich hier als Redaktor in Form von Rollenprosa einen Kommentar verfasst, wie ich mir heute vorstelle, dass ich vor zehn oder fünfzehn Jahren einen zweiten Nachtrag hätte schreiben sollen? Mit der einleitenden Wendung «Vom Sprachverständnis her, das sich in den Werkstücken spiegelt…» deute ich das an. Aber ist es mir auch gelungen?

Seit August 2017 arbeite ich nun am «Stückwerk»-Onlineprojekt und immer klarer wird: Unveröffentlichte, also nicht durch zeitlich fixierte Druckversionen objektivierte Texte zu redigieren, hat immer auch mit einem Sich-selber-ins-Wort-Fallen zu tun. Wo hört die redaktionelle Verbesserung der Formulierung auf und wo beginnt die inhaltliche Veränderung? Weiss ich noch genau genug, was ich damals gemeint habe, um heute wissen zu können, ob die redigierte Formulierung meiner damaligen Meinung entsprochen hätte? Und dahinter steht die Frage: Inwiefern formuliere ich heute noch als der, der damals formuliert hat? Bin «Ich» eine Entität oder ein historischer Prozess?[1]

[1] im Logbucheintrag «Redaktor Januskopf» habe ich Anfang August 2017 letzterem zugeneigt.

(27.03.+03.04.2018)

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