Schulbubentraum

Die «Gefahr der Sprache», sagt Adorno, sei es, «an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern».[1] Wenn Habermas das kommunikative Handeln entwickelt, um die Vernunft «prozedural» zu retten, tut er es – aus Adornos Sicht – um den Preis der Verhökerung der Wahrheit. Anders – in der gleichen Logik – Hölderlin: Er hat die Wahrheit gegen die Vernunft, die mittels Kommunikation hergestellt wird, verteidigt, indem er an die «treuen freundlichen Götter» gewandt, sagte: «Ich verstand die Stille des Äthers, / Der Menschen Worte verstand ich nie.»[2]

Ist es mehr als ein Schulbubentraum, die Wahrheit innerhalb der Sprache als Kommunikationsmittel verteidigen zu wollen?

[1] Theodor W. Adorno: Parataxis – zur späten Lyrik Hölderlins. Gesammelte Werke 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2015/5, S. 459.

[2] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Band 6. München (Luchterhand) 2004, S. 15.

(02.04.1989, 26.06.1997; 19., 26.03.+03.04.2018)

 

Nachtrag 1

Umgekehrt: Wahrheit in der Sprache wäre nur insofern möglich, als Sprache nicht kommuniziert. Vorausgesetzt wäre in diesem Fall ein monadisches, autarkes, autistisches Subjekt als Zentrum einer eigenen Welt, ein Ich als unbeschränkter Herrscher über eine eigene Sprache, die nur durch ihre kommunikative Veräusserung bedroht würde (eine solche Sprache hatte ich im Konvolut im Blick beim Versuch, die Frage, wem die Sprache gehöre, zu beantworten).

Nun kann man aber «in der Perspektive des historischen Materialismus» auch «in Richtung eines nicht-individualistischen Subjektbegriffs» denken, wie Konrad Lorenzer schreibt.[1] Dann wird die Idee einer Privatsprache als Verteidigungsring, der im Universum der Kommunikation das Heiligtum der eigenen Identität in einer neutralisierten Zone – in der «Stille des Äthers» – vor der fundamentalen Unbefugtheit alles Menschlichen bewahren soll, selbst zum Schulbubentraum: «Die Sprache ist so alt wie das Bewusstsein – die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen.»[2] So gesehen gibt es ohne Kommunikation keine Sprache und Wahrheit ausserhalb der Sprache höchstens als metaphysisches Gerücht.

[1] Konrad Lorenzer: Sprachspiel und Interaktionsformen. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977, S. 36.

[2] Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW Band 3. Berlin (Dietz-Verlag), 1983, S. 30.

(26.06.1997; 19.03.2018)

 

Nachtrag 2

Wenn ich mich richtig verstehe, kann es Wahrheit weder innerhalb der Sprache als Kommunikationsmittel noch ausserhalb der Sprache geben, weil sie dort höchstens ein metaphysisches Gerücht sein kann. Also gibt es Wahrheit ausschliesslich innerhalb der Sprache, aber nur insofern als diese Sprache nicht kommuniziert – eben in der neutralisierten Zone von Hölderlins «Stille des Äthers», die ich versuchsweise einmal als inneren Monolog bezeichnen will.

Das wiederum heisst: Das Bemühen um «Wahrheit» ist ausschliesslich eine intrapersonale Veranstaltung, eine psychische Entlastungsübung für solche, die es nötig haben, über ein subjektiv robustes Wissen zu verfügen, wie es «in Wahrheit» sei. Aber ausserhalb dieses inneren Monologs gibt es keine Dinge, Zusammenhänge oder Ideen, die «in Wahrheit» wären. Sie sind bloss. (Bis sie wieder vergehen.) Das ist auch fast dreissig Jahre nach dem Formulieren dieses Werkstücks ein bisschen verunsichernd.

(19., 26.03.+03.04.2018)

v11.5