Ein gescheiterter Versuch

1.

Am Morgen des 28. Februar 1998 deponierte der Eisenplastiker Schang Hutter seine tonnenschwere Skulptur «Shoah» exakt vor dem Eingang des Bundeshauses. Zwar war die Platzierung der Arbeit auf dem Bundesplatz vorgesehen im Rahmen eines Skulpturenwegs, der zum 200. Gedenktag von Napoleons Einzug in Bern vom damaligen Schlachtfeld im Grauholz in die Stadt Bern hineinführt – aber eben nicht genau vor, sondern neben dem Eingang zum Bundeshaus. Danach haben die zuständigen Ratspräsidenten, Ernst Leuenberger (SP) für den Nationalrat und Ulrich Zimmerli (FDP) für den Ständerat, «das unbefugte Platzieren» zwar gerügt, hätten die Skulptur aber bis zum Ende der laufenden Frühlingssession dulden wollen.

Am Morgen des 3. März liessen dann Parlamentarier der Freiheitspartei die Skulptur abtransportieren und dem Künstler vor seine Werkstatt im Solothurnischen stellen – der «Bund» publizierte ein Bild, das zeigt, wie die in einem Kubus von etwa einem Meter sechzig Kantenlänge eingelassene Stahlfigur sich aufzurichten scheint unter dem Zug der ihr um den Hals gelegten eisernen Kette, an der die Skulptur auf den bereitstehenden Lastwagen gehoben wird. Daneben posieren die Selbstgerechten der ehemaligen Autopartei, die danach in einer Pressemitteilung festhielten: «Der Schrott ist weg.» (Bund, 04.03.1998)

Ich habe Hutters Eisenplastik am 1. März vor dem Bundeshaus besichtigt. Sie beeindruckte mich, weil ich den Quader als Blackbox des Grauens interpretierte und mich diese Nichtdarstellung des Nichtdarstellbaren (wie schon an Claude Lanzmanns «Shoah»-Film) überzeugte. Auch gehört die Plastik zweifellos in die aktuelle innenpolitische Diskussion um die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Andererseits war mir sofort klar, dass Hutters Aktion etwas Billiges hatte: Ein bestandener Solothurner Parteigänger jener Regierungspartei, die zur Zeit einen solothurnischen Nationalrat als Ratspräsidenten stellt, startet mit einer Plastik, die sich nicht mit der problematischen Verschontheit der Schweiz befasst, sondern eben mit der «Shoah», von der man sich einfacher distanzieren kann, eine öffentlichkeitswirksame Aktion, die seinen Namen bekannter machen wird.

Trotzdem wählte ich das Ereignis als Stoff für ein Gedicht, umso mehr als ich mich in letzter Zeit vermehrt mit dem Gedanken beschäftige, wie es möglich wäre, mit meiner lyrischen Sprache direkter auf die gesellschaftspolitische Aktualität zu reagieren.

 

2.

So entwarf ich eine Rohfassung, die in einem ersten Teil Hutters Aktion, im Mittelteil die Beschreibung der Skulptur und im letzten Teil die Aktion der Freiheitspartei umfassen sollte. An folgendem Punkt brach ich die Arbeit ab:

Holocaust-Leugner

Für Schang Hutter

Schau: Im Morgengrauen mit Laster und Kran
Der Künstler. Er stellt seine Arbeit
auf die Mittelachse des Hauptportals seines Staats
          Zur Sprache bringen das Nichts
          das Würgen und Stottern am
          Unausprechlichen

Schau: Von Rost überwachsene Zeichen
Verschüttete Flammenschrift, Zahlenfragmente
Mannshohe Platten zur Blackbox gefügt
zum ebenmässigen stählernen Würfel
          Pandorabüchse: umschlossenes Nichts
          gefüllt mit Verstummtem
          Vergessnem

Schau hier: Die obere Kante gebrochen
In den Quader vertieft ein schmaler Kanal
Eine Furche des Schmerzes: das Grab
für den steckengliedrigen stählernen Menschen
          Sarkophag im Würfel des Nichts
          ruhend in der Spurlosigkeit des
          Verdrängten

Schau: Die verschwiegne Skulptur vier Tage lang
unerwünscht, geduldet. Dann kommen mit Laster und Kran
und Geschrei gewählte Räte, legen die eiserne Kette
um den Hals des Opfers. Jubeln: Der Schrott ist weg!
          So weht das Shoah-Gedenken als gesäubertes Nichts
          aus aschenem Haar und aus Ruhe & Ordnung
          der Vergesser, Verdränger, Verleugner.

3.

Warum verlor ich plötzlich jede Motivation, diese Rohfassung weiter zu schleifen? – Es gab ästhetische Probleme, die um die Fragen kreisten: Wie weit sollen solche Verse rhythmisiert werden und graphisch regelmässig angeordnet sein? Müssten Gedichte, die in die Aktualität geschrieben werden, nicht viel eher der spontanen Rede angenähert und also in freien Versen gestaltet sein? Hier bin ich unsicher (ich habe seit mehreren Jahren ein Misstrauen gegen das freie Daherreden in Gedichten, weil es im schlechten Fall eitel gegliederte Prosa und im besseren eine verpasste Chance ist: Auch die formale Anordnung von Textmaterial kann Evidenz suggerieren).

Aber es gab noch etwas anderes: Das Pathos des Eingedenkens, das ich angeschlagen hatte mit Blick auf die aktuelle Problematik der Holocaust-Leugner am rechten Rand des politischen Spektrums, klang mir falsch in den Ohren. Ich begann an den Wörtern, die ich gesetzt hatte, in einer Art zu zweifeln, dass der Versuch sofort abzustürzen drohte. Dieser Zweifel hängt mit dem Vorsatz zusammen, mit meiner lyrischen Sprache direkter auf die gesellschaftspolitische Aktualität reagieren zu wollen.

Dieser Vorsatz führt in ein unlösbares Dilemma: Wörter und Aussagen, die Aktualität fassen, sind die in diesem Moment öffentlich verwendeten, also die medialen; öffentlich verwendete Sprache ist aber eine taktische ohne Wahrheitsanspruch: Ich habe keine Ahnung, was Hutters (Selbst-)inszenierung bedeuten sollte, und insofern weiss ich nicht, wie im Zusammenhang mit der Aktualität – der Aktion eben – die Skulptur zu intepretieren wäre. Ist sie unter dem Blickwinkel der Aktualität das, was sie mir beim Betrachten geschienen hat – ein Anlass zum Pathos des Eingedenkens – oder ist sie etwas ganz anderes, nämlich eine sozialdemokratische Propagandaoffensive ohne ästhetische Ambition, ein innenpolitisches Hasardieren mit dem Zweck, den politischen Gegner in der Auseinandersetzung um die Interpretationshegemonie in Bezug auf die nationalsozialistische Endlösung zu einem Fehler zu verleiten?

Was sage ich, wenn ich in einem solchen Zusammenhang auf die eine oder andere Weise mitzureden versuche? Was sage ich, wenn ich weiss, dass die zu verwendende Sprache in extremem Mass «nicht mir gehört», weil sie von der Aktualität weitgehend mit verdeckten taktischen Motiven konnotiert ist? Als «meine lyrische Sprache» verstehe ich ja eine Sprache am Rand, eine Sprache, die ich nur in seltenen Momente gesellschaftlicher Unaufmerksamkeit und also: Dekodiertheit auffinde in Wendungen, die «wahr» sind in dem Sinn, dass sie in ihrer wenig taktisch belasteten Bildhaftigkeit mit einer gewissen Zuverlässigkeit das sagen, was ich meine.

An diesem Punkt der Argumentation überlegte ich noch einen Augenblick, ob mein Text zu retten wäre, wenn ich seinen Ton weiter entfernen würde vom Unkontrollierbaren der Aktualität (die Widmung streichen sowieso, aber auch die Ereignisse in stärker verfremdender Metaphorik abbilden etc.) Schnell verstand ich, dass ich damit aus der Aktualität zu flüchten versuchte, um sie darstellen zu können. Als ich dieses Paradox gefunden hatte, war die Sache für mich erledigt: Ich kann – zurzeit? – meine Realität nicht mit dem Stoff der politischen Aktualität darstellen.

(03.1998; 20., 28.3.+03.04.2018)

 

Nachtrag

Die «Shoah»-Skulptur blieb nicht lange vor Hutters Werkstatt stehen. Der eben glänzend wiedergewählte Stadtpräsident von Zürich, Joseph Estermann (Sozialdemokrat auch er), liess sie abholen und auf den Paradeplatz stellen – zugegebenermassen ein guter Einfall. Denn so verheerend die Asylpolitik der Bundesbehörden damals war, so verheerend war die unmoralische Geld- und Goldscheffelei der schweizerischen Banken.

In Zürich versuchten sich die Freiheitsparteiler mit Flugblättern, die sie an die Skulptur klebten, im Gespräch zu halten. Die Reaktion der Bevölkerung hatte etwas Rührendes. Auch drei Wochen später noch, als ich am 26. März zur Mittagszeit über den Paradeplatz ging, türmte sich über die steckengliedrige Figur in ihrem stählernen Kanal ein kleiner Berg von wie mir schien frischen Blumensträussen.

(02.04.1998; 03.04.2018)

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