Die Inkongruenz der Begriffe

So wächst das Schweigen: Die Begriffe werden dem, was ich zu sagen habe, immer kongruenter. Sie werden zusehends zu dem, was ich mit ihnen sagen will. Früher waren sie mir das, was ich wünschte, dass sie wären. Mit dem allmählichen Verlust der produktiven Inkongruenz der Begriffe erlahmt in meinem Denken der Impuls zur Ideologiekritik und damit mein poetischer Impuls, scheint mir heute. Anders: Poesieproduktion hat bisher für mich vor allem mit Ideologiekritik zu tun gehabt. Gibt es für mich einen poetischen Impuls jenseits der Ideologiekritik, den ich als weder dumm, naiv noch reaktionär ernst nehmen könnte?

(08.04; 13.05.1995, 10.03.2008)

 

Nachtrag 1

Später habe ich diesem Sachverhalt das Gedicht «neubeginn» gewidmet (siehe hier, S. 133). Der Verlust der produktiven Inkongruenz fasste ich darin in die Formulierung: «meine namen für die dinge / sind verstummt». Eine Antwort auf die gestellte Frage habe ich allerdings auch heute, zehn Jahre später und nach der Veröffentlichung von «Echsenland», nicht. Ich bin kein Dichter. Holdes Meinen scheint mir immer mehr im genauen Wortsinn nicht der Rede wert.

(05.09.2005; 28.03.+03.04.2018)

 

Nachtrag 2

Während der Arbeit am Poetik-Fragment «Ohne eigene Sprache» habe ich mich 1986 intensiv mit Friedrich Hölderlins «Hyperion» auseinandergesetzt. Unter anderem habe ich dort folgende Sätze, die Hyperion an Bellarmin schreibt, zitiert: «Nun sprach ich nimmer zu der Blume, du bist meine Schwester! Und zu den Quellen, wir sind Eines Geschlechts! ich gab nun treulich, wie ein Echo, jedem Dinge seinen Nahmen.»[1] Das Werkstück könnte von diesen Hölderlin-Formulierungen inspiriert sein, die mich, wie ich weiss, beeindruckt und zeitweise begleitet haben.

Was das Gedicht «neubeginn» betrifft, so finde ich die Arbeitsdatei in meinem elektronischen Textarchiv. Sie ist datiert mit «Notizheft 1.5.2002ff.; 9.5.2002; 3.3.2003». Ob ich kurz vor dem Mai 2002 wieder im «Hyperion» gelesen habe, kann ich nicht mehr sagen. Dass «meine namen für die dinge» Hölderlins «jedem Dinge seinen Nahmen» zumindest unbewusst parodieren, liegt auf der Hand.

Im Übrigen ärgert mich der «Echsenland»-Frust am Schluss des Nachtrags 1, Lyrik sei nicht der Rede wert. Das ist das Gejammer des angefixten Buchautors, der im Kopf des ehemaligen Konvolut-Freaks nach Komplimenten fischt. Ein unwürdiges Schauspiel. Ich war ja immer – oder doch: immer mehr – der Meinung, ich sei ein Journalist, aber einer, der inhaltlich und formal über alle Zäune grase. Es geht immer wieder darum, im Grenzgebiet das für mich Nötige zu sagen. Wenn dafür ein Gedicht die richtige Form zu sein scheint, werde ich das Nötige selbstverständlich auch weiterhin in Gedichtform auf den Punkt zu bringen versuchen. Punkt.

[1] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente (Hrsg.: D. E. Sattler), Band 5. München (Luchterhand Literaturverlag) 2004, S. 144.

(20., 28.03.+03.04.2018)

v11.5