Das Leiden am Schreiben

Immer wieder höre und lese ich die Klagen von Schreibenden, sie litten an «Schreibstau», überhaupt: welch Leiden und endloser Kampf das Schreiben sei. Ich meine: im Gegenteil. Es ist ein Vergnügen, ein anspornendes Spiel, schreibend nach Lösungen zu suchen (die allerdings nichts lösen als das selbstgestellte formale Problem, das sich aus einem als nötig erachteten Gedanken ergibt).

Allerdings gibt es tatsächlich zwei Leiden am Schreiben:                              

• Das eine ist die Ärgerlichkeit, das Geschriebene drucken lassen zu müssen. Schreibende, die aus materiellen Gründen darauf angewiesen sind, als solche zu gelten, weist nicht ihr Geschriebenes, sondern ausschliesslich ihr erfolgreich Veröffentlichtes als Schreibende aus. Entsprechend ist alles Veröffentlichte kontaminiert mit materieller Abhängigkeit (Wes Brot ich ess, des Lied ich sing) und emotionaler Bedürftigkeit (ich prostituiere mich mit meinem Geschriebenen, dafür gibst du mir soziales und kulturelles Kapital).

• Das andere Leiden ist jenes, das entsteht, wenn ich manchmal über Wochen keine Frage finde, deren Antwort das Schreiben lohnen würde.

(05.03., 16.06.1992; 20.03.2001; 21.+27.03.2018)

 

Nachtrag 1

Erste Variante: Handwerklich geht’s vorwärts: Setze ich mich hin, um einen Text zu schreiben, geht’s immer schneller, bis etwas Lesbares vorliegt. Aber immer länger suche ich, bis ich weiss, was ich sagen will. Die Wege werden länger – sie zu begehen wird einfacher: Sie sind immer ausgetretener und führen alle ins Flache. Weiterzugehen in ruhigem Schritt geht von aussen besehen im Minimum als Konsolidierung von Handwerk & Stil durch. Aber was bringt’s?

Zweite Variante: Handwerklich wird’s mit der Routine einfacher: Setze ich mich hin, um einen Text zu schreiben, geht’s immer schneller, bis etwas Lesbares vorliegt. Bloss ist dieses Lesbare immer fader. Immer weniger gelingt es mir, im Neugeschriebenen das Neue zu erkennen. Es schreibt mir immer mehr vom Gleichen. Wozu überhaupt noch schreiben, wenn es so ist?, frage ich mich dann. Und könnte mich ebensogut fragen: Wozu noch schreiben, auch wenn es anders wäre? Auch wenn das Neue gelänge, was soll es, wenn es nicht gelesen werden will? Als mir vor mehr als zwanzig Jahren Mariella Mehr einschärfte, es gebe Dinge, die müssten geschrieben werden, auch wenn sie nicht gedruckt und also nicht gelesen würden, bezog sie sich auf Gesellschaftspolitisches, konkret auf Aspekte der unterdrückten Geschichte und Erinnerung der Fahrenden. Ich dagegen muss, um im Ernst weiter zu schreiben, behaupten, es gebe Dinge, die aus persönlichen Gründen geschrieben werden müssten, ohne sich an eine potenzielle Leserschaft zu richten. Der fehlende Glaube, dass diese Behauptung stichhaltig zu begründen sei, macht es zunehmend schwierig, weiterzuschreiben über die Lohnschreiberei hinaus.

(06.+16.6.1997; 21.10.2005; 18.05.2018)

 

Nachtrag 2

Zum Werkstück: Das zweite Leiden wird mit zunehmendem Alter kleiner: Zuerst werden die Fragen seltener, später auch das Bedürfnis, die verbliebenen beantworten zu wollen. Was ist schon eine gut gemeinte Antwort gegen eine gute Frage?

Und was das andere Leiden betrifft, dagegen gibt es ein wirkungsvolles Mittel: Wer nicht darauf angewiesen ist, als Schreibender zu gelten, ist auch nicht angewiesen auf die Veröffentlichung seiner Texte. Das meine ich nicht zynisch, ich sage nur, dass dies der Grund ist, dass journalistische und literarische Publizistik quantitativ dominiert wird von selbsternannten Edelfedern, die dank genutzter Bildungsprivilegien aus dem Kleinbürgertum aufzusteigen hoffen (exakt so einer bin ich ja auch). Die Idee, das Schreiben zum Beruf zu machen, ist in aller Regel der Traum solcher, die dem vorbestimmten Leben als Knecht auszuweichen versuchen. Wen die Herkunft nicht zum Knecht bestimmt, wählt selten den sozialen Abstieg, den das Schreiben als Beruf für ihn bedeuten würde.

(16.03.2008; 21.+27.03.2018)

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