Nirgendland – staatlich sanktioniert

1.

Eines der zentralen Themen der staatlich verordneten 700-Jahr-Feier heisst «Utopie». Der Staat fordert die Kulturschaffenden auf, Utopien zu produzieren und bietet ihnen zu ihrer Realisierung einen offiziellen Rahmen und Geld an. Utopie ist ein griechisches Wort, das sich aus «ou» (nicht) und «tópos» (Ort) zusammensetzt, was, wie ich nachlese, mit «Nirgendland»[1]  oder «Nicht-Ort», «Nirgendwo» oder «Land, das nicht ist»[2] übersetzt werden kann und 1516 zum Titelbegriff des romanesken Staatsentwurfs «Utopia» von Thomas Morus geworden ist.

Was jetzt, 1991, geschieht: Der Staat organisiert sich seine «Utopien», indem er dem Fabulieren der Kulturschaffenden, die er zuvor vom Staatsschutz hat überwachen lassen, einen kontrollierten und kontrollierbaren Ort fürs Fabulieren über das von ihm vorgegebene Thema überlässt. Was per Definition ortlos ist, die Utopie, soll, aus der Sicht der Staatsfeier, auf Kommando an dem vom Staat verortneten Ort stattfinden. Die Utopien der 700-Jahr-Feier sollen genau insofern zur Kenntnis genommen werden können, als sie keine sind.

Dagegen ist der Kulturboykott utopisch insofern, als er gegen das Rahmen-Diktat des Staates die Ortlosigkeit als Potentialität verteidigt. Darum schafft, so paradox das klingt, das Nein von Machtlosen und Marginalisierten jenen Raum, aus dem Kräfte zur Delegitimierung übergriffiger Staatlichkeit und neue utopische Entwürfe wachsen können.

2.

Der Anspruch von Morus’ «Utopia» war, «ein erheiterndes Büchlein über den besten Staatszustand» zu schreiben.[3] 1991 fordert der Staat, wenn er Utopien fordert, also wohl auch Entwürfe zum besten Staatszustand, deren Umsetzung er in Wirklichkeit konsequent verhindern muss, insofern erster Zweck jeder Herrschaft die Verteidigung und Perpetuierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse ist. Deshalb lässt er unter anderen ja auch Kulturschaffende überwachen.

Anders: Der Staat fordert die kreativen ZeitgenossInnen zur Ideologiebildung auf, wobei Ideologie bedeutet: Produktion des Scheins von beliebiger Veränderbarkeit der herrschenden Verhältnisse zum Zweck unveränderter Herrschaftsausübung. Die «Utopien» des Jahres 1991 sollen darüber hinwegtäuschen, dass es in diesem restaurativen Zeitalter auch innenpolitisch vor allem andern um ihre Verhinderung geht. Man könnte auch sagen: Die offizielle Schweiz bietet die kreative Randständigkeit zur Inspektion ihrer selbstgeschmiedeten, kümmerlichen intellektuellen Waffen auf. Für diese Rekognoszierung einer – allerdings kleinen – Bedrohungslage an der inneren Front bietet er immerhin einen festlichen Rahmen.

Der ökonomische Druck, der in den nächsten Jahren der neuentstehende europäische Wirtschaftsraum ausüben und das, was man heute unter «Schweiz» versteht, möglicherweise beenden wird, soll offenbar möglichst hinterrücks als Unvorhergesehenes, als Verhängnis hereinbrechen.[4] «Der beste Staatszustand», der in der Zukunft aufscheint, ist jedoch keine Utopie, sondern die möglichst optimale Perpetuierung dessen, was ist: eine immer mehr durchkapitalisierte Schweiz als profitierende Provinz der real existierenden ökonomischen Weltherrschaft, die in der Restwelt mit immer grösserer Gewalt Menschen und Widersprüche niederwalzt.

3.

An der Podiumsveranstaltung um den Kulturboykott gegen die 700-Jahr-Feier an den Solothurer Literaturtagen hat Marco Solari als Delegierter des Bundesrats am 25. Mai 1990 zum Begriff «Utopie» folgendes ausgeführt: «Für mich persönlich, meine Damen und Herren, wurde die 700-Jahr-Feier von dem Moment an interessant, als es hiess, dass wir frei wären, die Millionen so zu investieren, dass es vor allem ein Blick nach vorne werden sollte. […] Die 700-Jahr-Feier macht nur Sinn, wenn wir fähig sind, über Visionen, über Idealbilder, über Utopien nachzudenken. Wenn wir das nicht mehr sind, dann haben wir verloren.»[5]

Solaris Statement wurde – so meine Erinnerung – mit freundlicher Aufmerksamkeit aufgenommen. Wer wird sich denn empören wollen, dass es eigentlich für einen Skandal steht? Es ist ja nicht so, dass nicht überall auf der Welt immer wieder Utopien formuliert worden sind und formuliert werden – Utopien für eine ökonomisch gerechte, ökologisch nachhaltige, nicht-patriarchale Welt zum Beispiel. In allen antiimperialistischen, antisexistischen, antirassistischen Kämpfen, im Widerstand gegen die Atom- oder die Gentechnologie ist in der Negation des Protests immer auch ein utopischer Horizont erkennbar.[6]

Durch die staatliche Aufforderung zur Utopie wird so getan, als wenn es ohne diese Aufforderung keine Utopien gäbe. Damit werden alle aus staatlicher Sicht inoffiziellen Utopien als solche zum Verschwinden gebracht. Solaris Argument macht glauben, das per Definition Ortlose sei ausserhalb seiner Verortung im staatlichen Auftrag nicht zu denken und das ausserhalb eines staatlichen Auftrags Gedachte könne nicht Utopie sein. Er fordert also – anders – «Utopien», die von vornherein keine sein können und versucht gleichzeitig jene, die es gibt, mittels ignorierender Verleugnung unschädlich zu machen.

[1] Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg (Verlag Felix Meiner), 1955, S. 638f.

[2] Jürgen Teller: Nachwort, in: Thomas Morus: Utopia. Leipzig (Reclam) 1976, S. 144.

[3] Thomas Morus, a.a.O., S. 3.

[4] Diskussionsveranstaltung zum Kulturboykott am 30. Mai 1990 in der Villa Stucki in Bern: «Einig waren sich die TeilnehmerInnen [Kjell Keller, Liliane Studer, Regine Christen, fl.], dass sie sich nicht an den CH 91-Feiern beteiligen werden, an denen wie bei einem kranken Baum vor dem Tod mit einem letzten Anflug von Fruchtbarkeit ein Mythos Schweiz aufgebaut wird, währenddem im Jahr darauf mit der EG 92 das Land dem Europa der Konzerne angeschlossen werden soll.» (Berner Tagwacht, 02.06.1990)

[5] Transkription meiner persönlichen Tonbandaufnahme dieser Veranstaltung.

[6] Dass sich dieser Horizont zur Zeit nicht als schlüssiges Gesellschaftsbild lesen lässt, sondern fragmentiert bleibt in einzelne Felder des Widerstands, die keinen einheitlichen «Frontverlauf» erkennen lassen, ist die für mich heute unüberwindbare Aporie des kritischen Handelns. Freilich wissen wir, warum wir wogegen handeln – wofür wir es tun, können wir aber nur sehr ungefähr wissen. Wir handeln für ein als richtig Erkanntes, das ortlos und unvorstellbar ist: Der Antrieb unseres Tuns und Lassens ist die (noch?) nicht formulierte und deshalb unvorstellbare Utopie.

(01./03.6.; 16.12.1990; 28.09./25.11.1997; 09., 12.,13.+15.03.2018)

 

Nachtrag

Beim Wiederlesen der Werkstücke dieses Mäanders – aber bei diesem Werkstück besonders – fällt mir die undifferenzierte Verwendung des Begriffs «Staat» als Herrschaftsapparat auf. Müsste ich, wenn ich derart explizit Schweizerisches verhandle, nicht immerhin einige relativierende Worte darüber verlieren, dass dieser Staat als Demokratie organisiert ist – und einige lobende darüber, dass die direkt demokratische Struktur doch immerhin das Stimm- und Wahlrecht samt entsprechender Mitsprachemöglichkeiten garantiert?

Ich stelle fest: Ich habe es nicht getan – aber sicher nicht, weil ich gegen direktdemokratische Mitsprache gewesen wäre. Immerhin habe ich mich damals in meiner täglichen Berufspraxis für mehr als das, nämlich für basisdemokratische Mitsprache, kontinulierlich engagiert. In Auseinandersetzung mit dem Kulturboykott ging es mir damals um anderes: Bloss weil ein Territorium innerhalb nationaler Grenzen sich die Spielregeln einer direkten Demokratie gegeben hat, ist es ja deswegen nicht schon kein Staat. Und dass bei aller demokratischen Mitsprache die massgeblichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte – zum Beispiel mittels Einsatz von «ideologischen Staatsapparaten» (Louis Althusser) – immer auch an der Stabilität der Struktur und insofern an der Herrschaftserhaltung arbeiten, war mir auch damals schon klar.

Als letzthin – an der Beerdigung der WoZ-Fotografin Gertrud Vogler (siehe hier, Nachtrag 2) – der ehemalige WoZ-Kollege fk leichthin sagte, ich sei ja schon immer ein Anarchist gewesen, war ich einigermassen verblüfft. Und auch jetzt scheint mir: Mein Versuch, während der Kulturboykott-Debatte den «Staat» zu kritisieren, hatte keine anarchistischen Hintergedanken – er abstrahierte bloss von der in diesem Zusammenhang unbestrittenen politischen Organisation der staatsbürgerlichen Mitsprache.

(13.+15.03.2018)

v11.5