Der Absagebrief vom 11. Mai 1992

«Lieber Linus [Reichlin][1]

Weil ich zurzeit nicht bei der WoZ arbeite, hat mich Deine Einladung zum ‘1. Kulturboykott-VeteranInnen-Treffen’ erst gestern abend (via uf) erreicht.

Auf die Teilnahme an diesem Treffen möchte ich verzichten. Einerseits machen mich solche Anlässe akut schwermütig, andererseits mag ich die ironische ‘Vernütigung’ der damals geleisteten Arbeit nicht (‘…gute, alte Zeiten, als wir mit unserem Komitee die Welt veränderten’). Der Kulturboykott ist zwar beim Versuch, zu einer längerfristigen Perspektive zu kommen, im Ansatz gescheitert, aber immerhin hat er ein vermutlich auch im historischen Rückblick nicht zu übersehendes Signal gesetzt (als ‘Kunstwerk Nein’).

Dass er von vornherein vermutlich obsolet war, weil er sich zu einer Schweiz in Opposition stellte, die sowieso schon erledigt war, konnten wir nicht so klar sehen, wie es heute möglich wäre. Nun hat die ökonomische Basis im Lande das Sagen übernommen und bis die Schweiz umgebaut ist, werden die Überbauten, auch das Kulturschaffen, auch das dissidente respektive das ‘dissidente’, nicht viel zu melden haben.

Wenn das Treffen zustande kommt, grüsse ich alle ‘VeteranInnen’ freundlich und wünsche einen langen Atem und trotzdem eine gute Zeit in den kommenden mageren Jahren

fredi»

[1] Der Schriftsteller Linus Reichlin war Mitglied des Kulturboykott-Komitees und gehörte zu jenen, die die Aktion 1991 weitergeführt haben.

(11.5.1992, 20.3.2001; 12.03.2018)

v11.5