Bildersturm

1.

Wer keine Utopie hat, ist blind in der Seele. Wer über seine Utopie spricht, ist eine Narr. Wer seine Utopie zu verwirklichen versucht, wird zum Verbrecher.

2.

In einer säkularen Welt entspricht dem Gottesbildverbot der Bibel das Utopieverbot: «Du solt dir kein bildnis noch jrgent ein gleichnis machen/ wedder des das oben im himel / noch des das unden auff erden / odder des das im wasser unter der erden ist. Bete sie nicht an / und diene jn nicht.»[1] Was Max Frisch in seinem erzählerischen Werk darstellte, dass nämlich das Bildnis des geliebten Menschen die Liebe zu ihm zerstöre, müsste auf die Utopie als Liebe zur Welt gewendet werden: Das utopische Bildnis einer Welt, das geliebt werden kann, zerstört die Liebe zur Welt, wie sie ist. Und immer mal wieder die Welt selber.

3.

Über Utopien soll man schweigen. Utopien sollen ort-los sein, auch in der Sprache. Die Bilder von Gegenwelten, die wir brauchen, um durch die wirkliche Welt zu finden, mutieren – festgeschrieben – zu Handlungsanleitungen totalitärer Welterlösung (daher der penetrante Herrschaftsgestus aller Welterklärungskonstruktionen).

4.

Utopie hat ein Doppelgesicht. Indem sie mit Bildern einer Gegenwelt den Zielpunkt und das Ende der Zukunft suggeriert[2], weist Utopie in eine illusionäre Zukunft und verhindert so den Blick in die real zu erwartende. Deshalb soll man sich abwenden «von der Idee einer Vollendbarkeit der Geschichte, überhaupt von den utopischen Versprechungen des Absoluten, der säkularen Verwirklichung des Heils».[3]+[4]

5.

A.: Aber wie soll man Politik machen ohne Perspektiven, ohne Utopie?

B.: Politik wozu? Politik für wen?

A.: Politik für uns alle: Die Welt muss doch organisiert werden.

B.: Herrschaftssorgen! Hegemoniegejammer! Hätten alle Menschen eine faire Chance, sich durchzubringen, sie wüssten sich zu helfen.

A.: Anarchie! So ist die Welt sicher nicht zu organisieren!

B.: Zu organisieren wohl, aber zu beherrschen nicht. Utopien? Bildersturm!

[1] 2. Mose, 20, 4+5 nach Martin Luther: Biblia/das ist/ die gantze Heilige Schrifft Deutsch, Wittemberg, 1534. Leipzig (Verlag Philipp Reclam jun.) fotomechanischer Nachdruck 1983, o. S.

[2] Insofern ist utopisches Denken ein teleologisches Denken: Es nimmt eine zwingende Zweckbestimmtheit von Struktur und Entwicklung der Wirklichkeit an. Dieses Denken ist deshalb final, nicht kausal und «dient objektiv der Rechtfertigung der religiösen Weltanschauung» (Georg Klaus/Manfred Buhr [Hrsg.]: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, (Reinbek bei Hamburg [rororo], 1983, S. 1216).

[3] Peter Furth: Phänomenologie der Enttäuschungen. Frankfurt am Main (Fischer) 1991, S. 95.

[4] Ein Jahr, nachdem Furth das im Punkt 4 erwähnte Zitat veröffentlicht hat, erschien das Buch «The Ende of History and the Last Man» des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama. Darin sieht er nach der Zeitenwende von 1989/90 die Utopie der endgültigen freien Marktwirtschaft das Ende der Geschichte besiegeln. Jetzt, fünfzehn Jahre später, ist Fukuymas «Ende der Geschichte» nur noch eine Fussnote in der Zeitgeschichte (12.8.2006).

(24.01.1991; 12.03.2018)

 

Nachtrag

Friedrich Hölderlin lässt seinen Empedokles zu den Agrigentinern sagen: «[…] denn liebend giebt / Der Sterbliche vom Besten, schliesst und engt / Den Busen ihm die Knechtschaft nicht –»[1] Ich könnte diese Position als ethischen Anarchismus bezeichnen und so umschreiben: Frei von seinem «Besten» zu geben, ist jeder Utopie überlegen, die man sich ausdenkt, um sie im Lehnstuhl der Selbstgerechtigkeit erwarten zu können.

[1] Friedrich Hölderlin: Empedokles I, in: ders: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Band 7. München (Luchterhand) 2004, S. 63.

(18.03.1998; 12.+14.03.2018)

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