Apokalyptische Blicke

Am 8. Februar 1982 hat die Berner Zeitung (BZ) gemeldet, der Berner Sektionschef Rudolf Rytz habe öffentlich das Folgende verlauten lassen: «Meine Herren, wenn es mit den Demonstrationen und Schmierereien so weitergeht, wird Militär eingesetzt und es wird Tote geben, denn dann wird scharf geschossen!» Im durch die Jugendunruhen polarisierten politischen Klima in der Stadt Bern führte diese Äusserung zu heftigen Reaktionen. die BZ erhielt «eine Flut von Zuschriften von der Gratulation bis zur Empörung». Abgedruckt wurde unter anderem auch ein Leserbrief von mir[1] unter meinem damaligen, fundamental-moralischen Pseudonym Anatol Jeremia Zangger:

«ich gehöre zum ‘städtischen gesindel’: ich bin ein ‘tagedieb’, ein ‘mieser chaot’, ein ‘nutzloser fresser’, ein ‘feigling + nichtstuer’, ein ‘AJZ-vagant’.

ich kam aus den jugendgettos: aus schulen, heimen, knästen, kasernen; ich kam aus den gettos der behinderten, kranken, kaputtgemachten. ich wurde weitergeschleust: in die wohngettos, arbeitsgettos, feriengettos. bin ich später tot genug, werde ich in einem altersgetto verlocht.

ich lebe unter menschen; unter schweigsamen, ordentlichen, braven menschen; unter pflichtbewussten, disziplinierten, dressierten menschen; unter gehässigen, verbitterten, vergifteten menschen; unter menschen, die mich verhöhnen, quälen und rufmorden, die mich erschlagen, erschiessen und aufspiessen wollen. ich lebe als (vogel)freier schweizer unter schweizern: für das, was jene als ‘ruhe und ordnung’ bezeichnen, steht meine militärische endlösung zur diskussion.

mein land ist ein freies land; ein freies land der friedhofsruhe, der grabesordnung, der krematoriumswärme, der massengrabnähe, der gnadenschussmenschlichkeit. mein land ist ein liberaler, fortschrittlicher hort der humanität für polnische wirtschaftsflüchtlinge: in meinem land diskutiert man öffentlich,  wer mich unter welchen bedingungen wie exekutieren soll.»[2]

Zanggers apokalyptischer Blick war bestimmt durch meine Angst vor der unterschwelligen Gewalttätigkeit der gesellschaftlichen Reaktion auf «unseren» Angriff gegen die herrschende, vollgefressene Dumpfheit. Dieses überall spürbare, drückende, bedrohliche Klima liess dem Engagement nur eine verengte, zum Beispiel apokalyptische Perspektive. Wer sich engagierte, musste mit der eigenen Hoffnungslosigkeit zurande kommen. Der apokalyptische Blick erwuchs deshalb aus dem Gefühl, abgeschnitten zu sein von der Zukunft – von der Zeitperspektive, in der Sinn einzig denkbar ist.

Während das Land, in dem ich lebe, unterdessen munter und flächendeckend sein angeblich 700jähriges Bestehen feiert (der Bundesstaat Schweiz ist ja lediglich 143 Jahre alt), stellt sich genau dieser Blick in den ersten Februartagen 1991 wieder ein. Die Fragen, die von Tag zu Tag bedrängender werden, machen vieles, was vor Ausbruch des Nahostkriegs wichtig war (zum Beispiel Kulturboykott und 700-Jahr-Feier), zunehmend obsolet. Was, wenn beim bevorstehenden Beginn der US-amerikanischen Bodenoffensive der Irak Giftgas einsetzt? Reagiert die USA dann mit taktischen Atombomben? Was, wenn Israel mit Giftgas angegriffen wird und danach Vergeltungsschläge gegen den Irak führt? Nehmen dann die arabischen Staaten für den Irak Partei? Auch militärisch? Was, wenn die sowjetischen Militärs Gorbatschow endgültig entmachten und zum Kalten Krieg zurückkehren? Bleibt die Sowjetunion dann neutral? Und was ist mit der «Neuen Weltordnung», die der US-amerikanische Präsident George Bush letzte Woche wieder angedroht hat? Lauter Eskalationsperspektiven. Weltkriegsszenarien. Apokalyptische Blicke.

[1] BZ, 17.2.1982 (nur in der Ausgabe für das Emmental), nachgedruckt in: Der Drahtzieher, Nr. 17/1982.

[2] Auf die Leserbriefflut in der BZ reagierte die Redaktion der Bewegungszeitung «Der Drahtzieher», der ich damals angehörte, in Nr. 17/1982 mit verschiedenen fingierten Leserbriefen, die die offen faschistoide Tonlage («nutzlose Fresser», «miese Chaoten», «scharf schiessen» etc.) der Originaltexte persiflierte. Dies führte – veranlasst durch die Schweizerische Bundesanwaltschaft – zu einer Voruntersuchung wegen «öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen» (Art. 259 StGB) gegen den Drahtzieher. Sie wurde später mit der Begründung eingestellt, im Gegensatz zu den Leserbriefen in der BZ seien die fingierten Leserbriefe im Drahtzieher nicht ernst gemeint gewesen. Dass gegen Sektionschef Rudolf Rytz juristisch vorgegangen worden wäre, ist mir nicht bekannt.

(02.1982; 05./06.02.1991; 13.+15.03.2018)

 

Nachtrag 1

Ein merkwürdiges Werkstück. Der Zangger-Text strotzt vor apolitischem Manichäismus, und das in den verallgemeinernden Formulierungen ausgedrückte Bedürfnis, das Kreuz der Jugendbewegungswelt zu tragen, gemahnt an die Reise des messianisch verblendeten Frühsozialisten Wilhelm Weitling nach Zürich, die er, wie er im Rückblick schrieb, mit den Worten in Angriff genommen habe: «Ich will der Verfolgte werden und mein Kreuz nach Zürich tragen».[1]

Zugestehen will ich, dass aus dem Text auch jene Randgruppen-Paranoia spricht, die ich seither als Journalist bei vielen weltanschaulich motivierten Gruppierungen beobachtet habe. Dieses Angstsyndrom wirkt als selbsterfüllende Prophezeiung, weil es das Schmieden jeglicher politischer Koalitionen verhindert: Jene, die einem am nächsten sind, bekämpft man am unerbittlichsten, weil die Tatsache, dass sie nicht genau gleich sind wie man selber, das schwache Selbstbewusstsein erschüttert, ängstigt und fortwährend darin bestärkt, dass man von lauter Feinden umgeben sei.

Und der gleiche dramatisierende Ton, der sich aus der selektiven Wahrnehmung von Wirklichkeitsfragmenten ergibt, prägt auch die zweite Ebene des Textes aus den Tagen des Golfkriegs. Hier ist die Bedrohungslage allerdings objektivierbarer und hat ja damals auch andere Leute zu überdrehten Einschätzungen und Forderungen geführt (ich denke an Niklaus Meienbergs Worst case scenario oder an den Aufruf der Frauenaktion Scheherazade, über die Durchführung des Golfkriegs mittels Weltabstimmung zu befinden.

Was ich heute wichtig finde: Selbstverständlich ist es denkbar, dass irgend einmal eine Bedrohung auftaucht, die zum (subjektiven) Weltuntergang führen wird. Aber nötig wäre die Kraft, auch diese Lage so lange wie möglich als nicht apokalyptisch wahrzunehmen: Der apokalyptische Blick ist der paralysierte Blick der Maus vor der Schlange. Es ist für mich und für die Welt besser, auch dort noch Zukunft zu sehen, wo keine mehr ist, als Untergänge dort, wo keine sind.

[1] Wilhelm Weitling: Gerechtigkeit. Ein Studium in 500 Tagen, Berlin (Karin Kramer Verlag) 1977, S. 29.

(20.+21.03.1998; 12.03.2018)

 

Nachtrag 2

Aus Anlass seines neusten Buches, «Die Barbaren kommen», gibt der Genfer SP-Nationalrat Jean Ziegler eben heute dem «Bund» ein grosses Interview (21.03.1998). Er schätzt seine eigene Partei mittlerweilen als «kleinbürgerliche Mittelstandspartei» und als «Rote[s] Kreuz des Kapitalismus» ein und fordert: «Ich will den Sozialismus. Jetzt kann endlich über die sozialistische Gesellschaftsform diskutiert werden; jetzt ist die Sowjetunion fort.» Im Weg ist ihm vor allem das, was er als «Traum jedes Kapitalisten» bezeichnet, nämlich das «organisierte Verbrechen»: «Dort ist die Profitakkumulation maximal, die Intransparenz total, Märkte werden durch Oligopole erobert, und Steuern werden keine bezahlt.»

Diese in der Tat diskutable These verdirbt er aber mit einem apokalyptischen Blick auf die Wirklichkeit. Die Interviewer zitieren aus Zieglers Buch folgenden Satz: «Das organisierte Verbrechen ist mit Riesenschritten im Vormarsch. Sein Sieg über die Völker steht unmittelbar bevor.» Ziegler verteidigt seine Formulierung und spielt so seine Lieblingsrolle, die des Rufers in der Wüste: Das Messianische braucht das Apokalyptische. Zu meiner Politisierung als Journalist und Redaktor gehört auch, dass ich langsam lernte, den zanggerschen Messianismus hinter mir zu lassen.

(21.3.1998; 13.+15.03.2018)

 

Nachtrag 3

Dass ich mich jederzeit gegen die Vereinfachungen des apokalyptischen Blickes wehren muss, ist genau so richtig wie die Tatsache, dass mein Zeitalter wie noch keines zuvor objektiv unter der angedrohten Apokalypse lebt: ««Dient nicht die Bedrohung durch die atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebensosehr dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen?», beginnt Herbert Marcuse die Vorrede zu «Der eindimensionale Mensch».[1] Trotzdem führt der apokalyptische Blick nie zu politischer Opposition, die die Herrschaftsverhältnisse längerfristig bedrohen kann, sondern immer höchstens zu gesellschaftspolitischen Amokläufen (z. B. Massenselbstmorden von Sektenangehörigen).[2]

[1] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Schriften Band 7. Springe (zu Klampen Verlag) 2004, S. 11.

[2] Diesem Hinweis von 1998 vorangegangen waren Massenselbstmorde von Sektenmitgliedern in der Schweiz (1994), in Frankreich (1995), in Kanada (1997) und in den USA (1997).

(1998, später; 13.03.2018)

 

Nachtrag 4

Die atomare Katastrophe, die Marcuse hervorgehoben hat, ist in den Hintergrund gerückt. Unterdessen hat die Klimaveränderung, um deren politische Handhabbarkeit die internationale Völkergemeinschaft zunehmend zu kümmern sich genötigt sieht, ganz neue Möglichkeiten geschaffen. Die geografischen Räume der von der Klimaveränderung provozierten Naturkatastrophen sind im Rahmen von grösseren und kleineren Wahrscheinlichkeiten prognostizierbar.

Grundsätzlich wird also politisch immer mehr steuerbar, welche Menschengruppen das grösste Risiko zu tragen haben, bei solchen Katastrophen ums Leben zu kommen. Das ermöglicht die antihumane Perspektive der relativ gezielten Menschenvernichtung nach Landstrichen mit der rationalen Überlegung: Die durch Menschen verursachte Klimaveränderung kann nicht nur durch Energiesparen, CO2-Reduktion usw. reduziert werden, sondern die Klima- und Ressourcenschonung würde auch durch die Reduktion der Anzahl Menschen auf der Erde erreicht. Sagen wir um einen Drittel.

Das denkbar gewordene Kalkül: Diese Menschen kämen ja nicht in durch Menschen zu verantwortenden Kriegen oder industriellen Vernichtungslagern zu Tode, sondern durch schicksalshaft hereinbrechende Naturkatastrophen, die nur aus der Sicht der privilegierten Weltelite, die überleben würde, als gezielte Vernichtung von Überflüssigen zu erkennen wäre.

(26.12.2007; 12.+15.03.2018)

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