Willst du leben, ja oder nein?

Wer leben will, muss sich die Sinnfrage irgendwie beantworten. Wer auf das Instrument des Denkens nicht verzichtet, weiss, dass es keinen Sinn gibt, der sich nicht widerlegen liesse.

Du musst dir die Sinnfrage beantworten, obschon du dir jede denkbare Antwort widerlegen kannst und sollst. Hinter der Sinnfrage steht eine grundsätzlichere: Willst du leben, ja oder nein? Diese beantwortest du handelnd. So der so. Entscheidend ist immer die Tat.

(14.07.1989; 01.+06.03.2018)

 

Nachtrag 1: Handlungsmaxime

Tu das, was du tust, ganz. Aber glaube nie, dass das, was du tust, über das Tun hinaus einen Sinn hat.

(15.08.1991)

 

Nachtrag 2

Im Tagebuch, das ich am 10. November 1974, direkt nach dem Ende der Rekrutenschule, zu schreiben begonnen habe, steht als erster Satz: «Was ist das Leben schon? – Es ist alles, was ich habe.»

(11.07.1997)

 

Nachtrag 3

Die Antwort auf die Frage, was das Leben sei, müsste im Nachtrag 2 im Sinn des Werkstücks allerdings lauten: «Es ist alles, was ich ab jetzt tun werde.»

(10.07.2006; 01.03.2018)

 

Nachtrag 4

Der Nachtrag 3 kommentiert den zweiten in Bezug auf das Werkstück sicher richtig. Trotzdem macht mich die Tagebuchnotiz im Nachtrag 2 bis heute betroffen, weil ich weiss, was sie damals bedeutet hat: Der junge Mann, der in diesem Moment die Verzweiflung über seine eigentlich zu verweigernde Rolle als uniformierte Tötungsmaschine wieder tauschen soll mit der Verzweiflung über seine unmögliche Rolle als allwissender Schulmeister, hat in diesem Moment für sich die Suizidfrage noch nicht geklärt.

Ende Mai 1975 – in den Tagen, bevor er seine Anstellung kündigt – wird ihm in seinem Zimmer beim Abendessen das grosse Brotmesser zur Lebensbedrohung. Am 26. Mai lässt er im Tagebuch, wie ich eben nachgelesen habe, die Skizze einer Erzählung mit den Worten beginnen: «Nennen wir ihn L. und nehmen wir an, er leide unter schweren Depressionen und werde wegen Selbstmordgefahr in eine psychiatrische Klinik überwiesen, wo er die in seiner Situation nicht ungewöhnliche Äusserung tut, dass sein Leben sowieso keinen Sinn habe…»

Aus der Distanz von nunmehr bald dreiundvierzig Jahren schliesse ich nicht aus, dass jenem jungen Mann, der ich damals gewesen bin, in dieser Krise die Notiz vom 10. November 1974 zum Memento vivere geworden ist. Ich erinnere mich, dass sie mir als Einsicht längere Zeit sehr wichtig war.

(22.02.+01.03.2018)

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