Rhetorik des Unvorstellbaren

Ich lebe immer mehr in einem gesellschaftlichen Raum, dessen infrastrukturelles Know-how in den Bereichen Produktion, Transport und Kommunikation ich zwar benütze, aber in keiner Weise mehr durchschauen oder gar denken kann.

Die Situation hat sich in den letzten zweihundert Jahren radikal verändert: Damals war ein grosser Teil der die Leute umgebenden Infrastruktur – vom Beil über den Fahrwagen bis zum Brief – wenn nicht selber herstellbar, dann doch in der Herstellungs- und Funktionsweise durchschaubar und erklärbar. Heute sind Herstellungs- und Funktionsweise dieser Infrastrukturen – von beliebigen Produktionsmaschinen über die Freizeitelektronik bis zum Düsenjet – für jene, die sie benützen, vollständig undurchschaubare Tatsachen.

Gleichzeitig werde auch ich von solcher Infrastruktur immer vollständiger abhängig. Und nicht nur ich. Abhängig und einflusslos sind auch die PolitikerInnen und die ManagerInnen, also jene, die die gesellschaftliche Weiterentwicklung massgeblich diskutieren und durchsetzen. Das Dilemma von Politik und Wirtschaft ist immer mehr, das Nicht-mehr-Denkbare in den Dienst des Mach- und Durchsetzbaren zu stellen und ansonsten billigen Optimismus zu versprühen.

Dieses notgedrungen fundamental hochstaplerische Unterfangen ist ein objektiver Grund für die zunehmende Scheinhaftigkeit jedes gesellschaftlichen Tuns: Die Konsequenzen dessen, was man vertritt oder tut, werden immer unvorstellbarer. Handeln in Politik und Wirtschaft heute heisst nachgerade, Unvorstellbares zum notwendigerweise zu Realisierenden zu erklären im vorgeblichen Dienst des Allgemeinwohls der BürgerInnen respektive der KonsumentInnen. Vorgeblich deshalb, weil der Nutzen von Unvorstellbarem schwierig vorzustellen ist.

Die Schnittmenge zwischen dem Realisierten und dem aufgrund des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung ethisch Verantwortbaren wird immer kleiner.

(22./23.08.1996; 14.09.2005; 23.02.+02.03.2018)

 

Nachtrag

Beim Frühstück habe ich heute morgen der Zeitung entnommen, dass der russische Präsident Wladimir Putin gestern in einer Rede an die Nation «weltweit einzigartig[e]» neue Atomwaffen angekündigt habe, unter anderem «eine Interkontinentalrakete mit 20-facher Schallgeschwindigkeit, die einschlage wie ein Meteorit». Die neuen Waffen seien «in der Lage, alle Abwehrschilde zu durchbrechen». (Der Bund, 02.03.2018)

Klar, Putin hat Gründe zu bluffen: Zum einen steht er zurzeit vor seiner Wiederwahl in diesem Monat, zum anderen rutscht die Welt – vermutlich vor allem angeheizt von westlichen imperialen Interessen – zusehends in einen neuen Kalten Krieg zwischen West und Ost. Putin- und Russlandbashing ist deshalb seit Monaten in den sogenannten Leitmedien zum modischen Running Gag geworden. Seine Rede steht als Drohgebärde vor diesem Hintergrund.

Abgesehen davon zeigt dieses Beispiel, in welchem Mass heute Politiker auch ihnen «Unvorstellbares zum notwendigerweise zu Realisierenden» erklären (so im Werkstück). Zwischen dem Realisierten (wenn diese Waffen den tatsächlich existieren) und dem aufgrund von Putins Wissen und seiner Erfahrung ethisch Verantwortbaren gibt es keine Schnittmenge.

Damit ist allerdings nicht der russische Präsident als ethisch verantwortungslos denunziert – solche Rhetorik ist zurzeit normal. Im September 2017 sagte der nordkoreanische Präsident Kim Jong Un, er werde «den geistig umnachteten Amerikaner [Donald Trump, fl.] endgültig mit Feuer bändigen», worauf der US-amerikanische Präsident vor der Uno mit «völliger Zerstörung» Nordkoreas drohte (Spiegel, 24.9.2017), und zwar – so gegenüber dem japanischen Präsidenten Shinzo Abe – «mit der vollen Bandbreite der zur Verfügung stehenden diplomatischen, konventionellen und nuklearen Kapazitäten». (Zeit, 4.9.2017) Et cetera.

Bezogen auf die veröffentlichte Rhetorik von Staaten (und Konzernen) war die Formulierung im Werkstück, wonach die Schnittmenge zwischen Realisiertem und ethisch Verantworteten kleiner werde, auch 1996 schon naiv. Für gewisse realisierte Diskursarten sind ethische Rücksichten schlicht keine Referenzgrösse.

(02.+03.03.2018)

v11.5