Plädoyer für das Nötige und das Fällige

Es gibt tausend Arten, mit dem, was man denkt und tut, nicht dort zu sein, wo man ist. Nichts ist häufiger und alltäglicher als ort- und zeitflüchtiger Aktivismus: Man tut ein Mögliches, statt das Nötige und Fällige. Im schlechteren Fall delegiert man die Aktivität an das Spektakel, an dem man medial vermittelt zumeist zeit- und ortverschoben teilnimmt (wobei die Live-Teilnahme am Spektakel den Reiz erhöht, ohne an der Delegation der Aktivität etwas zu ändern). Die Funktion der jeweils herrschenden Kultur ist stets auch die Förderung dieses disziplinierenden Aktivismus, wie ihn heutzutage die Event-, Kunst- und audiovisuelle Medienproduktion einfordert.

Es geht – wie im alten Rom – um Brot und Spiele. Das bedeutete schon immer, die Verliererinnen und Verlierer der aktuellen Weltordnung mit Spektakel so zu unterhalten, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht tangiert werden: Unterdrückt zu werden, muss für die Unterdrückten unterhaltend sein. Das ist das erste und das letzte Wort der Weltgeschichte zum Problem der Systemstabilisierung.

Der Wunsch nach Veränderung von den drückenden Lebensumständen, der das Zielpublikum des Spektakels dunkel antreibt, wird befriedigt mit Inszenierungen, in denen nach durchlebter Krise all das möglich wird, was neben den Bühnen des Spektakels nicht sein darf. Aristoteles bezeichnete diesen kompensatorischen Effekt auf die griechische Tragödie bezogen als «Katharsis», womit er die Reinigung meinte, die beim «Jammern und Schaudern» – beim empathischen Durchleben der inszenierten Katastrophe – stattfinde.[1]

Das Nötige und das Fällige in einem emanzipativen Sinn wäre wohl stets, Menschen darin zu ermutigen und zu unterstützen, das an Ort und Stelle sich aus der eigenen Geschichte und gesellschaftlichen Lage ergebende Nötige und Fällige zu tun, statt sich verwalten zu lassen von zumeist anonymen Leuten, die hinter dem Fetisch der gesellschaftlichen Bedingungen ihre Interessen realisieren.

Das Nötige und Fällige verweist demnach immer über das krude Eigeninteresse hinaus. Ob es von anderen Menschen als emanzipativ verstanden wird, bleibt offen, und ob es für andere tatsächlich emanzipativ wirkt, ist die Hoffnung einer menschgemässen Ethik.

[1] Aristoteles: Poetik. Stuttgart (Reclam) 1982, S. 19.

(23.12.1995; 24.+25.10.2005; 27.02., 02.+06.03.2018)

 

Nachtrag

Katharsis war schon immer eine erhebende Sache, wenn man wohlgenährt im Publikum sass, um sich unterhalten zu lassen. Heutzutage lebt man in den Fernsehsesseln aller privilegierter Weltregionen insbesondere die eigene Empörung über das Unrecht gerne kathartisch aus, das man massenmedial spektakulär inszeniert tagtäglich Menschen anderswo erleiden sieht. Erhebend dabei ist nicht zuletzt, dass man als privilegiert Unterdrückter von jedem Tun dispensiert ist. Zuständig sind UNO, NATO und WTO und wie man den Leitmedien entnehmen kann, sind die Leidenden halt eigentlich schon immer auch selber schuld.

Andersherum: Plädoyer für das Nötige und das Fällige in Ehren – aber was würde das hier und heute über mein kleinräumig gedachtes Gutmenschentum hinaus bedeuten?

(25.10.2005; 27.02.+03.02.2018)

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