KosmEthik

Ich weiss, was heute in der Öffentlichkeit politisch korrekterweise zu sagen ist. Ich weiss, dass sich in diesem Land zurzeit die Schere zwischen Reich und Arm weiter öffnet und dass weltweit gesehen der Reichtum der Reichen auf Kosten der Armen ins Obszöne und Gemeingefährliche angewachsen ist. Aber wenn ich bedenke, was hierzulande zum Beispiel zu Gotthelfs Zeiten als wohlhabend galt oder wie wenig die wirklich Armen der Welt heute besitzen, dann bin ich immer aufs Neue verblüfft über das Mass an Existenzsicherung, auf das hier noch die Ärmsten selbstverständlich – und berechtigterweise! – Anspruch haben.[1] Der Sozialstaat, denke ich dann, ist eine gute Sache.

In solchen Momenten erinnere ich mich jeweils auch, dass mir damals, als ich zu denken anfing, das unvorstellbare Unrecht, das sich in den Besitzverhältnissen materialisiert, derart erschien, dass ich glaubte, damit auf die Dauer nicht leben zu können. Dieses moralische Pathos ist mir seither schmerzlos abhandengekommen. Aber die Tatsache bleibt.

Während ich diese Notiz schreibe, sitze ich übrigens in der Stadt auf einer Treppe und warte auf liebe Leute, mit denen ich essen gehen will. Als ich aufblicke, sehe ich vis-à-vis ein modisches Firmenschild mit dem Schriftzug «KosmEthik».

Mehr ist wohl auch diese Notiz nicht.

[1] Denn hier bedeutet Armut seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zuerst Hunger, sondern das Unrecht, viel weniger zu haben als andere.

(25.07.1996; 13.09.2005; 27.02.2018)

 

Nachtrag

Zum Sozialstaat noch folgendes: Obschon ich mich nach der Aufgabe des Primarlehrerberufs 1975 nie mehr um ein branchenübliches Einkommen bemüht habe, habe ich (auch dank meines solidarischen sozialen Umfelds) nie als arm gegolten. Und arm zu gelten, hat zu meinen Lebzeiten in diesem Land zwar soziale Ausgrenzung und psychisches Leid, aber nie Hunger bedeutet. Nie gehungert zu haben, könnte über die ganze Menschheitsgeschichte gesehen nur eine sehr kleine, sehr privilegierte Minderheit von sich sagen.

Zurzeit gibt es in diesem Land massgebliche politische Kräfte, deren Programm auf das Zerreissen des sozialstaatlich geknüpften Netzes abzielt. Gegen den Sozialstaat stellen diese immer radikaler die KosmEthik der Gewinnmaximierung. In den letzten zwanzig Jahren ist KosmEthik vom modischen Firmenschild zur massgeblichen politischen Propaganda geworden – und die Formulierung «Das Netz zerreissen» vom Buchtitel (Jörg Steiner, 1982) zum politischen Alltag.

(05.+06.03.2018)

v11.5