Kartenhaus

Es gibt heute ein gigantisch aufgeblähtes, hysterisches Geschwätz über die Mittel, die das Leben erleichtern sollen, weil dieses immer komplizierter werde. So wird die Idee eines einfacheren Lebens immer undenkbarer. Dafür wachsen die Märkte, die immer neue Hilfsmittel zur Vereinfachung des immer komplizierter gemachten Lebens anbieten. So werden die Leute des selbständigen Handelns entwöhnt.

Nie lebten die Menschen hierzulande mit mehr materiellen Mitteln zur Erleichterung ihres Alltags und unter weniger direkter, das heisst: direkt handlungsverhindernder Repression. Trotzdem wird ihre Ratlosigkeit immer grösser, was eigentlich zu tun wäre über die Festigung der eigenen materiellen Interessenlage hinaus.

Soziales Engagement zum Beispiel erscheint zunehmend als öffentlich zelebrierte, private Marotte: Wer es nötig hat, sich sozial zu engagieren, der soll das tun – aber er soll mich mit seinem privaten Problem der moralischen Bedürftigkeit, das ihn zu diesem Tun treibt, in Ruhe lassen. Was kann ich dafür, dass die Hälfte der Menschheit allgemach abserbelt? Ich habe es ja auch nicht leicht.

So hält man sich konsumierend still und blickt so mitleidig wie nötig in die Welt, damit das Kartenhaus, in dem man sitzt, noch möglichst lange nicht zusammenklappt.

(18.06., 08.07.1996; 12.+13.09.2005; 27.02., 05.+06.03.2018)

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