Die 11. Feuerbachthese. Thema mit Variationen

Immanuel Kant hat einmal geschrieben: «Dass Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.»[1] Mit dem Entscheid für die Philosophie entscheidet sich der Philosoph so gesehen gegen die Praxis: Die Macht, etwas tun zu können, verdirbt die Vernunft des Gedankens. Heisst: Theorie statt Praxis, Aufklärung statt Tat.

Dagegen lautet die 11. Feuerbach-These von Karl Marx: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.»[2] Marx will demnach entweder eine Philosophie, die den Philosophen zum König macht, die also die «Gewalt» ausübt, um die Welt zu verändern – oder aber ihr Ende. Heisst: Praxis statt Theorie, Tat statt Aufklärung.[3]

Ausser man würde Theorie als ein Spezialfall von Praxis verstehen – Aufklärung ein Spezialfall der Tat. Und tatsächlich: Gelingt es der Theorie nicht, Praxis zu sein, dann fristet Philosophie ein erbärmliches Dasein. Dann hält sie sich, so Theodor W. Adorno, nur deshalb am Leben, «weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward».[4]

Wenn ich akzeptiere, dass ernstzunehmende Philosophie ein Spezialfall von Praxis ist, was ist dann Kunst? Ihr Schein von veränderten Welten speist sich ja stets aus fiktionierenden Interpretationen der bestehenden Welt. Die Tat Kunst ist stets die Bebilderung einer Welt, die nach dem Verblassen des Scheins unverändert geblieben sein wird. (Darum interessieren sich in aller Regel jene am meisten für Kunst, die nicht darauf angewiesen sind, dass sich die Welt verändert.) Vermutlich tut ernstzunehmende Kunst immer wieder zweierlei: Sie beschwört mit dem Schein der Veränderung ex negativo die Unveränderbarkeit der Welt, und sie beschwört die Utopie, gegen alle Zumutungen der tatsächlichen Veränderer die eigene Unbrauchbarkeit zu stellen.

[1] Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, in; ders.: Werke Band 9. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1968, S. 228.

[2] Karl Marx/Friedrich Engels: Werke Bd. 3. Berlin (Dietz Verlag) 1983, S. 7.

[3] Allerdings kann Marx mit der 11. Feuerbach-These unmöglich das Ende der Philosophie gefordert haben: Die Forderung nach der Beendigung der sich philosophisch selbstvergewissernden Spracharbeit wäre ja die Forderung nach dem sprachlosen Ausgeliefertsein an die Herrschaft. Dies wäre noch dann eine Absage an die Aufklärung, wenn an eine «gute» Herrschaft geglaubt würde.

[4] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1982, S. 15.

(26.8.1989, 1990/1991; 22.02.2018)

 

Nachtrag 1: Variationen

Die optimistischsten Formulierungen zum Verhältnis von Denken und Handeln, von Interpretieren und Verändern, finden sich in der Tradition der Aufklärung.

• Günther Mensching kommentiert zusammenfassend, die im 18. Jahrhundert herrschende Philosophie habe nach aufklärerischem Verständnis «vornehmlich den Aberglauben und die Vorurteile zum System erhoben, die den grössten Teil der Menschheit bis dahin in Dummheit und Knechtschaft festhielten». Dagegen habe «die Aufklärung […]die Welt nicht bloss interpretiert, sondern verändert.»[1]

• Friedrich Hölderlin leidet zur Zeit der Französischen Revolution unter der Wirkungslosigkeit seiner Spracharbeit. In seinem Roman Hyperion lässt er den Protagonisten klagen: «…und dir schlafen die Hände im Schoos’? und mit Worten möchtest du ausreichen, und mit Zauberformeln beschwörst du die Welt? Aber deine Worte sind, wie Schneefloken, unnüz, und machen die Luft nur trüber und deine Zaubersprüche sind für die Frommen, aber die Ungläubigen hören dich nicht.»[2]

• Deutlicher wird er in einem Brief aus Jena an Christian Ludwig Neuffer im November 1794: «Wenn’s sein mus, so zerbrechen wir unsre unglüklichen Saitenspiele, und thun, was die Künstler träumten! Das ist mein Trost.»[3]

• Der österreichische Lyriker Anastasius Grün führte um 1830 im Gedicht «Der letzte Ritter» auf Ulrich Hutten bezogen zusammen, was für Hölderlin ein Entweder-Oder gewesen ist: «Fürwahr, ein seltner Schreiber, der mit der Klinge schrieb! Fürwahr ein seltner Ritter, der mit dem Kiele hieb!»[4]

• Mit der Hoffnung, dass Handeln, auch gewalttätiges, eine Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln wäre, war jene verbunden, dass Aufklärung zwingenderweise zu einer besseren Welt führen müsse und Gewalt deshalb gerechtfertigt sei. Gegen einen solchen Fortschrittsoptimismus war für Friedrich Nietzsche jedes Verändern eine nicht weiter legitimierte Machtausübung. Für ihn galt, «dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herr-Werden und dass wiederum alles Überwältigen und Herr-Werden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ‹Sinn› und ‹Zweck› notwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.»[5]

• Ob das Neue das Bessere sei, wurde im 20. Jahrhundert soweit in Zweifel gezogen, dass das Verhältnis von Verändern und Interpretieren laufend revidiert werden musste: Detlev Claussen begründet, warum Herbert Marcuse die Gewissheiten der 11. Feuerbachthese aufgegeben habe, so: Marcuse habe gewusst, «dass es nicht genügt, die Welt zu verändern, sondern der Theoretiker muss die Welt neu interpretieren, um ihre verborgenen Veränderungsmöglichkeiten zu entdecken».[6] 

• Skeptischer schreibt Oskar Negt 1988: «Innezuhalten und die Welt zu interpretieren ist, nachdem die Praktiker und Techniker die Erde bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, ein unabdingbares Gebot der Selbstaufklärung der Aufklärung, im Grunde ein Akt intellektueller Redlichkeit.»[7]

• Vollends umgedreht hat die 11. Feuerbach-These im gleichen Jahr Ulrich Beck: «Die Gesellschaft wurde und wird bis zur Unkenntlichkeit verändert, es käme nun darauf an, sie neu zu interpretieren.»[8]

• Günter Anders hat über den zweiten Band seiner «Antiquiertheit des Menschen» (1980) das illusionslose Motto gesetzt: «Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und schliesslich in eine Welt ohne uns.»[9]

• Im Bereich der Literatur hat Walter Vogt 1979 die zynische Antwort jener, die tatsächlich verändern, auf die 11. Feuerbachthese so gefasst: «Okay – Philosophie half nicht weiter. Angewidert stellte der Forschungsdirektor der ‹Idiochemie› fest, dass die Philosophie sich damit befasste, die Welt nicht so sehr zu erklären als zu verändern. Das konnte er selbst – und wie! Die Philosophen hätten nur so gestaunt.»[10]

• 1995 hat dem unterdessen verstorbenen Vogt sein Kollege Kurt Marti geantwortet: «Es kommt nicht darauf an, die Welt immer noch rascher zu verändern. Es kommt darauf an, die Welt zu erklären und, hierdurch einsichtig geworden, sie zu schonen.»[11]

• Im Zeitalter der Postmoderne bricht nun das zeitweise dialektisch gedachte Verhältnis von Verändern und Interpretieren vollends auseinander. Martin R. Dean schreibt: «Ich kann mit meinen Büchern keinen Kieselstein umdrehen. Die Welt bleibt die, die sie ist, verändern tun immer andere, und wie!»[12]

• Und aus der Sicht der Sieger des Kalten Krieges lässt sich in diesen Jahren lakonisch leitartikelnd feststellen: «Manchmal genügt es durchaus, die Welt zu interpretieren – so, wie sie sich verändert.» In einer monopolaren Welt wird der Neoliberalismus zum nicht Politikablen, zum verändernden Schicksal, das für jene, die es zu ertragen haben, bloss noch deeskalierend interpretiert werden muss. [13]

[1] Günther Mensching: Die Enzyklopädie und das Subjekt der Geschichte, in: J. L. R. d’Alembert: Einleitung zur Enzyklopädie. Frankfurt am Main (Fischer) 1989, S. 138.

[2] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Briefe und Dokumente, Band 6. München (Luchterhand) 2004, S. 108.

[3] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Briefe und Dokumente, Band 4. München (Luchterhand) 2004, S. 78.

[4] Zitiert nach: Rolf Michaelis: Der mit der Klinge schrieb, Zeit, 22.04.1988.

[5] Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral, in: Werke III. Frankfurt am Main/Berlin/Wien (Ullstein) 1972, S. 264.

[6] Detlev Claussen, in: Peter-Erwin Jansen [Hrsg.]: Befreiung denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse. Offenbach 1990 (Verlag 2000), S. 11.

[7] Oskar Negt: Modernisierung im Zeichen des Drachen. Frankfurt am Main (Fischer) 1988, S. 11.

[8] Ulrich Beck: Gegengifte. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988, S. 161.

[9] Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2. München (Beck), 1987, S. 5.

[10] Walter Vogt: Nutzen und Schaden, in: Der Garten des Mannes der Noah hiess. Zürich (Benziger) 1987, S. 179. – In «Schizophrenie der Kunst» (Zürich [Arche], 1971, S. 89) schreibt Vogt: «Weniger harmlos als Nachtträume sind Tagträume […] Die Menschen haben eine schreckliche Neigung, ihre Träume in die Tat umzusetzen. Es kommt jetzt darauf an, dass die Realisationen des Traums den Träumer nicht erschlagen.»

[11] Kurt Marti: Im Sternzeichen des Esels. Zürich/Frauenfeld (Nagel & Kimche), 1995, S. 118.

[12] Martin R. Dean: Der Mann ohne Licht. München/Wien (Hanser) 1988, S. 77.

[13] Martin Meyer: Weltordnung, in: NZZ, 06./07.07.1991.

(15./17.9.1997, 11.7.2006; 22.02., 01.+06.03.2018)

 

Nachtrag 2

So undenkbar es ist, dass Kunst die Welt verändert, so undenkbar ist es, dass Kultur die Welt nicht verändert.

(01.04.1996, 12.12.2005)

 

Nachtrag 3

Stimmt das? Ist es nicht vielmehr so, dass sich auch die Kultur selbsttätig nicht verändert? Geht Kultur als verändernde den ökonomischen Zwängen und den materiellen Bedürfnissen der Menschen voraus? Oder ist sie die Folge davon?

Vielleicht ist es so: Kunst ist die in ästhetische Formen gebrachte Interpretation der nicht zu verändernden Welt. Kultur ist die in ethische Formen gebrachte Interpretation der nicht zu verändernden Welt. Und beide sind gleichermassen abhängig von den Kräften, die die Welt tatsächlich verändern.

Jetzt bin ich bei Marxens Basis-Überbau-Argument, das sich auch in der 11. Feuerbachthese spiegelt, wonach «die Gesamtheit [der] Produktionsverhältnisse die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, [bildet], worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt […] Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.» Dagegen seien die «juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen» Formen, in denen die Konflikte ausgefochten würden, blosse «Ideologie».[1] So gesehen bestimmen die Produktionsverhältnisse Kunst und Kultur vollständig.

Aber stimmt das? Ist das Verhältnis zwischen Basis und Überbau monokausal? Und wenn nicht: Wie bestimme ich die gegenseitigen Wechselwirkungen? Und wie anders denn als Trivialität kann ich dann den zweiten Nachtrag überhaupt formulieren? Zum Beispiel so: So wünschbar es ist, dass Kunst und Kultur die Welt nicht nur interpretieren, sondern auch ein bisschen verändern, so unwahrscheinlich ist es, dass sie das tun, wenn man nichts dafür tut. – Allerdings müsste ich genauer sagen können, wen ich mit «man» meine. Ich trag’s nach, sobald’s mir einfällt.

 [1] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Werke Band 13. Berlin (Dietz Verlag) 1961, S. 8f.

(23.02.+01.03.2018)

 

Nachtrag 4

Unterdessen gefunden:

• «Die Theologen haben Gott nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, ihn – und uns – zu verändern. Mit dem Ende des Macht- und Herrschaftgottes müssen auch die Macht- und Herrschaftsverhältnisse dieser Erde ein Ende haben.»[1]

• «Alles hängt für uns von unserer Weltsicht ab; unsere Weltsicht ändern heisst die Welt für uns verändern, oder anders gesagt, die Welt zu verändern, da sie für uns niemals etwas anderes sein wird als das, was sie für uns ist.» Das sagt Fernando Pessoa in seinem grossen Stückwerkprojekt, das zwischen 1913 und 1934 entstanden ist. Und er führt an gleicher Stelle aus: Nur Dummköpfe – vor allem alle Revolutionäre – kümmerten sich um «Übel und Ungerechtigkeit der Welt». Der sensible und vernünftige Mensch dagegen gehe diese Übel zunächst dort an, «wo sie am deutlichsten zutage treten, nämlich bei sich selbst. Und damit wird er sein Leben lang beschäftigt sein.»[2] Das ist die Gegenposition zur 11. Feuerbachthese. Man könnte sie zum Beispiel so formulieren: Die Welt ist nur insofern zu verändern, als jeder Mensch sie neu interpretiert, indem er sich selbst verändert.

[1] Willy Spieler: «Dorothee Sölle – Gotteslehrerin und Prophetin», in: Neue Wege, Nr. 6/2003, S. 166.

[2] Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 2006, S. 165f.

(06.05.2008; 23.02.+06.03.2018)

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