Administrativfreiheit

Beim heutigen Stand der technologischen Möglichkeiten muss es das Interesse von Herrschaft sein, das Leben der Beherrschten (das heisst: der administrativ zu Beherrschenden) möglichst präzis an der beeinflussbaren Wirklichkeit vorbeizusteuern. Beherrschte dürfen deshalb mit primärer Realität (also mit jener, auf die sie handelnd Einfluss nehmen könnten) möglichst nur noch im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit in Kontakt kommen. Diese ist als entfremdete Arbeit arbeitgeberisch kontrollierbar und steuerbar.

Worüber jeder Mensch verfügt, solange er lebt, ist seine Lebenszeit. Darum lässt sich jeder Zugriff von Macht auch lesen als Enteignung der Verfügungsgewalt über diese Lebenszeit: Hierzulande geben die LohnarbeiterInnen werktags rund 45 Jahre lang die besten acht bis neun Stunden des Tages und ihre besten Kräfte für Arbeiten her, die sie höchstwahrscheinlich nicht täten, wenn sie die – hier und heute über das verdiente Geld vermittelten – Lebensgrundlagen anderswie sichern könnten.

Neben der beruflichen Tätigkeit in der primären Realität muss daneben die Aufmerksamkeit der zu Beherrschenden so vollständig wie möglich auf sekundäre Realitäten umgeleitet werden. Unter sekundärer, nicht beeinflussbarer Realität verstehe ich dreierlei:

• erstens kulturindustrielle Wirklichkeitsinszenierungen (kulturelle Grossveranstaltungen im weitesten Sinn, gerade auch sportliche);

• zweitens medial vermittelte Wirklichkeit respektive Cyberrealität ( dafür gibt es Massenmedien aller Art und individuell nutzbare elektronische Medien mit grundsätzlich ein-weg-kommunikativer Struktur);

• drittens das Reisen als Besichtigungsfahrten durch die primäre Realität, wobei Geschwindigkeit und Kanalisierung verhindern, sie anders denn als vollständig spurlos zu durchqueren (quasi Safaris im Gefängniswagen: hinter dem Panzerglas die unerreichbare Welt, die als Konsumgut sehr wohl begeistern darf).

In der primären Realität wird so das Tun der Beherrschten vollständig kontrollierbar. In der sekundären Realität ist das Tun der Beherrschten «frei», aber gleichzeitig ein vollständig simuliertes. Solche Freiheit nenne ich Administrativfreiheit.[1] Weltverlust als Freiheit ist gegenüber den Beherrschten nur durchsetzbar, wenn sie von diesen nicht als Freiheitseinschränkung (respektive als Aufhebung von Freiheit überhaupt) wahrgenommen wird. Darum muss den Menschen in dem Mass, in dem sie ihren Einfluss auf die Welt real verlieren, Inszenierung von scheinhaft freier Realität geboten werden. Was in der primären Realität freies Agieren wäre, wird zum interaktiven Reagieren im Rahmen des «Spektakels» im Sinn Guy Debords.[2] So absurd die Vorstellung wäre, dass ein Fussballspieler plötzlich einen Teil des Spielfeldes in Besitz nehmen, pflügen und bebauen würde, so absurd ist die Vorstellung, dass permanent durch sekundäre Realitäten administrierte Menschen etwas Unvorhergesehenes und insofern frei Entschiedenes tun könnten.

Wahr ist allerdings: Die Unfreiheit hat schon heute soweit an Unterhaltungswert gewonnen, dass nur noch verbiesterte Menschen von Freiheit reden. Sie weiterhin gar einzufordern, hat unterdessen etwas Zwangsneurotisches. Wer weiss, ob die Forderung nach Freiheit in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten ICD-10 nicht eines Tages unter die Rubrik F42 («Zwangsstörungen») subsummiert werden wird.

[1] Der Begriff ist C. A. Looslis Buchtitel «Administrativjustiz und schweizerische Konzentrationslager» (1939) nachempfunden. So wie Looslis Begriff für eine Justiz stand, die Menschen ohne Schuld und Urteil internierte oder versorgte, so steht der meine für eine Freiheit, die Menschen mit den Handlungsoptionen von Gefangenen frei sein lässt.

[2] Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Hamburg (Edition Nautilus/Verlag Lutz Schulenburg) 1978.

(15.08.1991, 09.12.1998, 12.05.2008; 23.02., 02.+06.03.2018)

 

Nachtrag

Was den Individualverkehr betrifft, bedeuten die Besichtigungsfahrten durch die primäre Realität folgendes: Der Mensch soll gerade die Spur- und Folgenlosigkeit, mit der er sich «selbstbestimmt» durch die primäre Realität bewegt, als seine unverzichtbare Freiheit verteidigen. Er soll seine Freiheit dazu nutzen wollen, (politisch) nicht eingreifen zu müssen respektive die Aufforderung zur (politischen) Tat als Eingriff in seine persönliche Freiheit ablehnen.

Im Spektrum der Möglichkeiten, Menschen inaktiv zu machen, liegt der Individualverkehr am Gegenpol zur Gefängnisinternierung. Ersterer steht für Freiheit simulierende Mobilität, letztere für Unfreiheit erzwingende Immobilität. In der Zielsetzung jedoch, dass Menschen spurlos durch die Welt administriert werden sollen, haben sie die gleiche Funktion.

(12.05.2008; 23.02.+02.03.2018)

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