Richle und Weber

Als Vorbereitung für eine journalistische Arbeit (ein Interview mit dem Schriftsteller Urs Richle) besuche ich im «El internacional», einer alternativen Quartierbeiz in Zürich-Wiedikon, eine literarische Lesung mit Urs Richle und Peter Weber (veranstaltet vom Buchhändler Ricco Bilger). Beide lesen sie aus ihren neusten Veröffentlichungen, Richle (* 1965) aus dem Roman «Mall» (Verlag Mathias Gatza), Weber (* 1968) aus dem Roman «Der Wettermacher» (Suhrkamp).

Richle, der sich auf den mir bekannten Fotografien durchwegs als gefährdet in der Welt stehender, übersensibler Existenzialist inszeniert, ist gross, robust und dass er zum Lehrer ausgebildet worden ist und unterrichtet hat, ist jetzt zumindest denkbar. Er liest in gepflegtem Deutsch, schnell, fliessend, ein wenig monoton, ein wenig leiernd, ohne grosses Vermittlungsinteresse, wie mir scheint. Eine zunehmend hartnäckige Heiserkeit zwingt ihn zu fortwährendem Husten und Räuspern. Die Lesung gerät ihm deshalb immer mehr zum angestrengten Versuch, professionell und funktional zu bleiben. Jedoch gerade der Versuch, gegen die immer mehr versagende Stimme anzulesen, zeigt sein Unwohlsein, seine Befangenheit und (Noch-)Nicht-Professionalität.

Dann Weber: Vom ersten Einatmen an ist seine Lesung ein musikalischer Vortrag – nach Jürg Laederach und Reto Hänny ist er ein neuer Suhrkamp-Sprachmusiker. Mit dem wiegenden Oberkörper eines Saxophonbläsers phrasiert er seine langen, verschachtelten Sätze, legt Kunstpausen ein, teils eigenwillige mitten in Sätzen, dann wieder liest er schnell und akzentlos über Satzenden hinweg. Lesend – fast wirkt es spontan – montiert er Ausschnitte aus seinem grossen Text neu: Mehrmals blättert er während eines Atemholens Dutzende von Seiten weiter, ein eben gefallenes Stichwort in ganz anderem Zusammenhang aufgreifend, nahtlos. Den Schluss macht, als eine Art Reprise, ein Abschnitt aus dem ersten Kapitel, das er zu Beginn gelesen hat.

Die Spracharbeit der beiden gebürtigen Wattwiler könnte nicht unterschiedlicher sein. Richle schreibt streng, oft in Kurzsätzen und Satzfragmenten pointierend, deskriptiv, beobachtend, entlang eines Plots, den er nach Montageprinzipien in Einzelteile zerlegt. Seine Sprache ist schlank, metaphernarm, präzis in den Sachverhalten, ab und zu dokumentarisch, spröd. Daneben Weber: Sein Text ist ein «barockes Orgelwerk» (eine Formulierung, die er vorliest), sprachmelodisch, voller Klanggedachtem und Alliterationen, der rote Faden ist verschliffen, der Text assoziativ gedacht, «abschweifend, um zur Sache zu kommen» (auch eine Weber-Formulierung). Sein Text ist, das wird bei der Lesung deutlich, offensichtlich als Partitur gedacht und entfaltet seinen letzten Sinn während der Lesung, indem er ihn interpretiert. Weber, gutgelaunt und vor Selbstbewusstsein strotzend, erfindet dank seiner Spielfreude seinen Text lesend neu.

Dagegen Richle: Sein Text war in jenem Moment abgeschlossen, als er ihn zu Ende gedacht hatte, jetzt, Monate und viele Lesungen später, ist ihm die Rückkehr zum Abgeschlossenen eine Last, deren er sich so höflich wie möglich zu entledigen sucht, indem er das ihm Fremdgewordene vor- und ausstellt. Dadurch wird ein Aspekt vordergründiger, der Teil jeder Lesung ist, das gebrochen Marktschreierische: Die uneigentliche Verlesung des Textes wird zur eigentlichen Anpreisung der Ware Buch.

Richle und Weber interpretieren die Rolle, die sie als hoffnungsvolle Jungautoren zu spielen haben, mit einer naiven Fraglosigkeit. Für sie sind Selbstverständnis, literarische Öffentlichkeit und der Buchmarkt Tatsachen, deren Hinterfragung auf jeden Fall nicht zu einer Lesung gehört, Lesung ist Business, wo eine «ganze Leistung» verlangt werden kann (der Eintritt beträgt 20 Franken, auch darum muss Richle weiterlesen). Die beiden geben sich Mühe, richtige Autoren zu sein und fordern im Gegenzug die ihnen zustehende Anerkennung ein (die sie auch erhalten, weil sie jene Rolle spielen, die das bildungskleinbürgerliche Literaturpublikum von Dichtern erwartet). Die beiden gehören einer Generation an, die sich vom neulinken Literaturverständnis emanzipiert, indem sie deren Fragestellungen nicht mehr fraglos übernimmt. So ist es wieder einfacher geworden, öffentlich den Autor zu machen (den Mann zu stellen).

(28.02.1994; 13.+15.02.2018)

 

Nachtrag

Das erwähnte Interview mit Urs Richle habe ich später geführt. Es erschien in WoZ, Nr. 19/1994 unter dem Titel «Nichts als Alter/Sterben/Berg» (ich hatte der Redaktion als Titel vorgeschlagen: «Auf dem Weg in die Öffentlichkeit»). Darin habe ich Richle auch auf die Lesung in Zürich angesprochen:

«[Als Autor ist das Texteschreiben ja das eine, das andere ist], sie öffentlich zu repräsentieren. An einer Ihrer Lesungen letzthin ist mir aufgefallen, wie routiniert, aber auch wie kritiklos sie eine solche Veranstaltung absolvieren – als Kunsthandwerker, der seine Ware feilbietet. Literaturbetrieb, Buchmarkt, Ihre Rolle in der Öffentlichkeit – solche Fragen sind Ihnen kein Problem?

Es ist nicht das, was ich ändern möchte. Die Idee, die Gesellschaft verändern zu wollen, überfordert mich völlig. Ich muss mich mit diesen Ansprüchen zuerst abfinden, dass in dem Moment, in dem man mit einem Buch an die Öffentlichkeit tritt, plötzlich auch Meinungen gefragt sind, persönliche Meinungen. Es ist nie meine Idee gewesen, bloss weil ich diese Bücher geschrieben habe, in der Öffentlichkeit auch meine persönlichen, politischen Meinungen preiszugeben.

Das würde heissen, für Sie ist schriftstellerische Arbeit apolitische Spracharbeit und Ihre politischen Meinungen Privatsache.

In meinen Büchern gibt es schon Stellungnahmen, daran liegt mir. Ich glaube, dass sich die persönliche Haltung, die persönliche Weltanschauung in den Texten manifestiert. Aber meine Idee ist es nicht, meine Weltanschauung gezielt zu transportieren.»

Ähnlich hat in einem anderen Interview einige Jahre später der Lyriker Raphael Urweider argumentiert auf die Frage nach der gesellschaftlich intervenierenden Rolle des Autors. Da gebe es eine «Selbstüberschätzung in zweierlei Hinsicht», hat er geantwortet: «Erstens: Wenn ein Dichter überhaupt ein Publikum hat, dann sind das meistens sehr wenige Leute, die in politischen Fragen gewöhnlich erst noch gleicher Meinung sind wie er. Zweitens ist das einzige, worüber ein Autor Aussagen machen kann, die Welt, die er entwirft, nicht die so genannt richtige oder reale Welt. In dieser Welt ist er genauso ein Mitspieler wie alle anderen. Höchstens macht er sich mehr Gedanken über seine Position, aber er kann keine Wahrheiten darüber sagen, wie die Welt ist oder wie sie sein sollte.» («Rollenzwang und Regelbruch», in: WoZ Nr. 22/2000)

(22.03.2005; 13.02.2018)

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