Meienbergs Tod. Ein Tagebuchblatt

Am Freitag, den 25. Mai 2001, reiste ich wie gewöhnlich um viertel vor acht mit dem Zug von Bern nach Zürich zur Arbeit. Bevor ich auf die Redaktion ging, traf ich mich als Zuständiger für Presserechtliches mit der Anwältin der WoZ in ihrem Büro in der Nähe des Hottingerplatzes. Wir hatten ein Treffen in Zug vorzubesprechen, in dem es am kommenden Montag darum gehen sollte, einen aussergerichtlichen Vergleich zu erreichen mit einem Treuhänder, dem die WoZ vorgeworfen hatte, den Untergang eines Öltankers vor der bretonischen Küste zu verantworten, was zu einer Umweltkatastrophe geführt hatte. Der Vorwurf war nicht haltbar, weil der Treuhänder nie Besitzer der angegriffenen Firma gewesen war, sondern jederzeit im Auftrag dieser Besitzer gehandelt hatte.[1]

Danach fuhr ich mit dem Tram ins Büro an der Hardturmstrasse: Erledigung der elektronischen und der papierenen Post, telefonische Bereinigung eines vorredigierten Textes mit einer freien Mitarbeiterin. Noch vor dem Mittagessen bittet mich der Inlandredaktionskollege hh um eine kurze Aussprache unter vier Augen, in der er mir seine Kündigung auf Ende Oktober mitteilt. Die Zürcher Inlandredaktion blutet weiter aus, und ich kann es nicht ändern.

Am Nachmittag redigiere ich den Text der Journalistin eb zum Tag des Nichtrauchens am 31. Mai. Vor fünf Uhr auf den Bahnhof und Weiterreise nach Basel. Ich versuche mich in Ian Hackings Buch über die «Multiple Persönlichkeit» zu versenken, als sich zwei Studenten in angeregtem Gespräch ins benachbarte Abteil setzen, was mich stört. Alsbald geht das Geplauder in ein Arbeitsgespräch über. Es zeigt sich, dass der eine offenbar Assistent ist, der andere Student. Besprochen wird ein umfangreiches Manuskript des Studenten. Meine Aufmerksamkeit wird geweckt, als der Name Niklaus Meienbergs zum ersten Mal fällt. Nach Baden lege ich das Buch weg und höre zu. Zur Diskussion steht die Rolle des Intellektuellen, später die Geistige Landesverteidigung in den sechziger Jahren, in Frick reden sie über die Realismusdebatte.[2] Als der Zug in Basel einfährt, stelle ich mich dem Studenten vor. Er ist perplex, sagt, dann sei ich damals ja dabeigewesen. Ich frage, ob seine Arbeit gedruckt werde und zu lesen sei, er, es handle sich um seine Lizentiatsarbeit. Plaudernd gehen wir die Rampe hinunter, ich relativiere meine damalige Funktion, ich sei in dieser Geschichte lediglich Meienbergs Knecht gewesen, sage ich und: Wenn er mich brauche oder mir den Text zu lesen geben wolle, so finde er mich auf der Zürcher WoZ-Redaktion.

Unten an der Rampe erwartet mich H. Sie ist von Bern her angereist. Ein bisschen feiern wir noch einmal unsere zivile Trauung am 1. Mai auf dem Berner Standesamt als Zäsur in unserer gemeinsamen Geschichte, die im Sommer 1977 hier in Basel begonnen hat. Strahlend schöner Vorsommerabend, die Strassen voll flanierenden Volks. Wir gehen über den Barfüsserplatz zum «Teufelshof» am Leonhardsgraben, ein gepflegtes Hotel nicht ganz in meiner Preisklasse, aber H. hat eingeladen und ist wie immer grosszügig. Ich stelle mich unter die Dusche, danach schlendern wir hinüber zum Münster, setzen uns auf der Pfalz unter den Kastanien auf eine Bank, H. hat Prosecco, Parmaschinken und ein Olivenbrot mitgebracht. Dann weiter zum Stadttheater, um viertel vor acht müssen wir die Billette holen für Lukas Bärfuss’ Stück «Meienbergs Tod», das heute Abend gegeben wird. Danach setzen wir uns an das Wasserbecken, in dem wie schon Ende der siebziger Jahre – als ich in dieser Stadt lebte – die poetischen Blechfiguren Tinguelys Wasser spritzen, schöpfen und schaufeln. Einen Vorbeigehenden erkennt H. als D. G., einen Arzt, mit dem sie zu Beginn der achtziger Jahre in der «Schweizerischen Gesellschaft für ein soziales Gesundheitswesen» (SGSG) zusammengearbeitet hat. Gemeinsam betreten wir kurz darauf das Theater. Im Vorraum erkenne ich mitten im strömenden Publikum auch den Assistenten und den Studenten aus dem Zug wieder.

Das Stück ist eine dreistündige «Groteske», wie es Bärfuss nennt, ein Stationenweg durch Meienbergs Leben mit grellen Bildern, manche sehr erhellend und wahr, andere verzeichnet, wie mir scheint. Dramaturgisch hängt die Sache ein bisschen durch, weil, das die Kritik von H., der ich mich anschliesse, die Figur Meienbergs sich nicht entwickelt. Zwar führen die Stationen von Freiburg in den frühen sechziger Jahren bis zu Meienbergs «Worst case-scenario» während des Ersten Golfkriegs 1991, gezeigt wird aber immer der gleiche fluchende, tobende, aggressive Narzisst, also jener Meienberg, den Bärfuss in dessen letzten Lebensjahren noch mitgekriegt haben mag. Ich meine, der Mann hatte auch andere Facetten. Item, alles in allem fühlte ich mich gut unterhalten.

Zu einer Szene muss ich hier aber meine Gegendarstellung festhalten, weil ich sie – im Gegensatz zu Bärfuss – miterlebt habe. Unter dem kleinen Zwischentitel «1984. Zürich, Schweiz» lässt Bärfuss den «Schweizer Schriftsteller» einen langen Monolog halten und führt wie folgt in die Szene ein: «Die Redaktionsstube einer linken Wochenzeitung. Eine politliterarische Debatte befindet sich in ihrer achten Stunde. Meienberg, zwei Redaktoren und ein schweizerischer Schriftsteller sitzen an einem Tisch. Volle Aschenbecher, leere Rotweinflaschen. Der schweizerische Schriftsteller trägt ein Seidenfoulard, eine getönte Brille und seine Lebenserfahrung zur Schau […], doch ist ihm entgangen, dass Meienberg und die Redaktoren während seiner Rede eingeschlafen sind.»[3]

Ich gebe zu, dass ich von dieser Szene im Theater merkwürdig berührt werde. Das Gespräch zwischen Niklaus Meienberg und Otto F. Walter hatte im Sitzungszimmer der damaligen WoZ-Redaktionsräumlichkeiten an der Kornhausstrasse 49 in Zürich stattgefunden – moderiert worden war es von ls und mir. Das Gespräch bildete den Abschluss und aus meiner Sicht den Höhepunkt der Auseinandersetzung, die damit begonnen hatte, dass Meienberg Walters damals erschienenem Roman «Das Staunen der Schlafwandler am Ende der Nacht» «Subrealismus» vorgeworfen hatte.

Danach hatten wir von der WoZ-Redaktion eine schliesslich über fast ein halbes Jahr andauernde Debatte über Realismus und Fiktion in der Deutschschweizer Literatur organisiert. Ich erinnere mich, dass Walter wegen Meienbergs Angriff verletzt war und dass es mehrere telefonische, möglicherweise auch schriftliche Anläufe brauchte, bis Walter sich schliesslich bereit erklärte, sich mit Meienberg an einen Tisch zu setzen zu einem klärenden Gespräch.[4] Als Walter schliesslich am 27. April 1984 kurz vor halb fünf auf die Redaktion kam – da erinnere ich mich genau – zitterte seine Stimme, als ich ihn begrüsste, und auch die Zigarette in seiner Hand zitterte zu Beginn des Gesprächs. Weiter erinnere ich mich, dass das Gespräch von beiden Seiten mit grosser Ernsthaftigkeit geführt wurde – was Meienberg betraf: nix von fluchendem, tobendem, aggressivem Narzissten –, dass neben «Rotweinflaschen» (es waren zwei Flaschen «Patriarche») auch Mineralwasser auf dem Tisch stand und dass der Wortlaut des Gesprächs im Frühling 1984 in der Zeitung in Ausschnitten und danach in der Broschüre «Vorschlag zur Unversöhnlichkeit» integral veröffentlicht worden ist. Vieles, was Bärfuss seinen «Schweizer Schriftsteller» sagen lässt, hat Otto F. Walter damals weder wörtlich noch sinngemäss gesagt.

Diese Gegendarstellung sagt nichts gegen Bärfuss’ Stück im Allgemeinen und nichts gegen die erwähnte Szene im Speziellen. Sie sagt nur: Es handelt sich nicht um eine realistische Szene. Freilich auch nicht um eine «subrealistische». Bärfuss hat seine Idee von Meienberg gezeichnet. Diese Zeichnung hat mit der historischen Figur dort nicht viel zu tun, wo er Meienberg zur Schiessbudenfigur macht, um seinen Vatermord zu begehen und eigentlich die 68er- und die 80er-Generation als ganze meint, die beide mit überzogenen politisch-moralischen Forderungen angetreten sind und wenig erreicht haben (oder doch nicht das, was sie – nimmt man ihre Absichtserklärungen ernst – erreichen wollten). Bärfuss’ Stück ist also auch eine Abrechnung mit dem, was ich als Mitglied der Berner Jugendbewegung versucht habe und woran auch ich gescheitert bin.

Übrigens zogen wir nach Ende der Aufführung mit dem Arzt G. über die Mittlere Brücke ins Kleinbasel hinüber. Vor der Kaserne, dem alternativen Kulturtreffpunkt, standen drei- oder vierhundert Leute plaudernd in der milden Nacht. G.’s Lebenspartnerin A. V., eine Psychiaterin, die wir dort trafen, fragte ich nebenbei, ob es in der Schweiz eigentlich keine «Multiplen Persönlichkeiten» gebe. Nein, antwortete sie. Nicht überall träten zur gleichen Zeit die gleichen psychiatrischen Diagnosen auf, denn Diagnostizierende könnten nur das diagnostizieren, wofür laut der herrschenden akademische Lehre Diagnosen vorgesehen seien.

Gegen eins sind H. und ich über die Mittlere Brücke zurück und den Spalenberg hinauf zum Hotel geschlendert.

[1] Der Vergleich kam schliesslich zustande, indem ich in der WoZ die Sicht der Dinge dieses Treuhänders darlegte. Dem Beitrag ging ein ausführliches Gespräch voraus, das ich zu einem porträtartigen Text verarbeitete, den der Treuhänder und sein Anwalt vor der Publikation integral gegenzulesen das Recht erhielt (vgl. «Sorgfaltspflicht eines Verwaltungsrats», in WoZ, Nr. 1+2/2002). Dieser Text ist bis heute mein kostensparendster journalistischer Sündenfall geblieben.

[2] WoZ [Hrsg.]: Vorschlag zur Unversöhnlichkeit – Realismusdebatte Winter 1983/84. Zürich (WoZ). 1984.

[3] Zitiert wird nach der «Unkorrigierten Probefassung» des Stücks, die mir WoZ-Kollege sr zur Verfügung gestellt hat.

[4] Mein Papierdossier zur «Realismusdebatte» habe ich im März 1999 dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben (vgl. Nachlass Niklaus Meienberg, darin: «Dokumentation zur Realismus-Debatte», SLA-Meienberg-D-6/08-14). Die dem Treffen vorangegangene Korrespondenz müsste in der Mappe D-6/11 liegen.

(07.05.2001; 12.+15.02.2018)

 

Nachtrag 1

Einige Zeit später hat sich der Student, dessen Gespräch ich im Zug mitgehört hatte – er hiess Philipp Metzler –, bei mir auf der WoZ-Redaktion in Zürich gemeldet und mich später dort auch besucht. Ich habe mich mit ihm ins «Sphères», das Restaurant im Parterre des Gebäudes, in dem im ersten Stock die Redaktion lag, gesetzt und wie ein Aktivdienstveteran von meinen Meienberg-Erinnerungen erzählt. Der junge Mann hat zugehört, ohne sich (wenn ich mich richtig erinnere) Notizen zu machen, hat sich schliesslich verbindlich bedankt und mir ein Beleg seiner Lizenziatsarbeit versprochen, die er unter dem Titel «Fernrohr und Mikroskop. Zugänge zu Niklaus Meienbergs Geschichtsschreibung» im Juni 2001 einreichen wollte. Seither habe ich zwar nie mehr etwas von ihm gehört, aber seine Arbeit hat er eingereicht unter dem Titel «Den Abszess zum Platzen bringen».[1] 

[1] Philipp Metzler: Den Abszess zum Platzen bringen. Zugänge zu Niklaus Meienbergs Geschichtsschreibung. Lizenziatsarbeit der philosophischen Fakultät der Universität Zürich, Juni 2001.

(14.02.2005; 12.02.2018)

 

Nachtrag 2

Ein anderes Tagebuchblatt wäre dieses: Bei der Diskussion zwischen Meienberg und Walter an der Kornhausstrasse waren von der WoZ nicht nur ls und ich im Raum an der Arbeit, sondern als Fotografin auch die WoZ-Fotoredaktorin Gertrud Vogler.

Ich denke im Moment jeden Tag an sie: «Am 30. Januar nahm Gertrud zu Hause im Kreis der Familie Abschied von dieser Welt; wie nicht anders zu erwarten, bestimmte sie den Zeitpunkt selbst.» (Hier und im Folgenden: WOZ, Nr. 6/2018.) Am letzten Freitag, dem 8. Februar, bin ich nach Zürich gefahren, um auf dem Friedhof Sihlfeld an ihrer Beisetzung teilzunehmen. Es war ein kurzer, linksalternativ formloser Abschied. In einem letzten persönlichen Gruss an das WOZ-Kollektiv hatte sie einige Tage zuvor kurz, bündig und grossartig alles gesagt, was es braucht, um zu gehen und zu trösten: «Freut euch mit mir!! Salute. Ich habe mein Leben gelebt, es war gut, ich bin zufrieden.» Ich bin vor dem offenen Loch im Boden, in dem die Urne stand, in die Knie gegangen und habe, wie alle anderen auch, einige Rosenblätter hineingeworfen. Dazu habe ich gemurmelt: «Gertrud, danke für alles.»

(12., 13.+15.02.2018)

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