Die Lesungsödnis

Warum sind literarische Lesungen eigentlich immer mehr oder weniger unbefriedigend? Kommerziell wie Modeschauen, aber dargeboten von Leuten, die kein Geschick haben, ihre neuste Mode unterhaltend anzupreisen?

1. Geschriebene Sprache ist nicht gesprochene Sprache. – Literarisch gedrechselte Sprache eignet sich nicht immer, vorgelesen zu werden.

2. Texte schreiben ist ein anderes Metier als Texte vortragen. – Die meisten Lesungen wirken gut gemeint bis unfreiwillig komisch (ihre Texte interpretieren können nur schauspielerisch geschulte Leute wie etwa Guido Bachmann oder Matthias Zschokke). Im Musikbetrieb käme es niemandem in den Sinn, einen am Klavier arbeitenden Komponisten zu nötigen, öffentlich selber die Solostimme seines neuen Violinkonzerts zu spielen.

3. Lesungen sind Schulmeistereien. – Die kommunikative Situation bei Lesungen entspricht jener beim Frontalunterricht in Schulzimmern. Je nach Bildungsgang der Autorin oder des Autors wird die Lesung eher im Stil eines Volksschullehrers oder dem einer Professorin zelebriert. Diskussionen über das Vorgetragene verlaufen im Rahmen eines Eintritt zahlenden, also grundsätzlich auf Konsum eingestellten Publikums wenig ergiebig: Wer bezahlt, ist Kunde, also König. Was gäbe es da im Ernst zu diskutieren?

4. Das Entwürdigende der Übungsanlage. – Abgesehen davon: Warum muss man eigentlich einem Publikum Texte vorlesen, das zu mindestens 99 Prozent fähig wäre, sie selber zu lesen? Die vorlesende Person weiss, dass die Zuhörenden zum Teil im Buch mitlesen, um zu kontrollieren, ob sie richtig vorlesen, und das Publikum weiss, dass die Vorlesenden wissen, dass sie nicht so blöd sind, wie sie sich im Rahmen der Lesung geben müssen. Dieses Spiel hat für beide Seiten etwas Entwürdigendes.

5. Die Schere zwischen Dichtkunst und ökonomischer Realität. – Nach der Lesung, nach Bilderbögen, Gesellschaftskritik, Wortschürfereien oder Begriffsartistik gibt’s in aller Regel den diskreten Hinweis, beim Ausgang lägen auf dem Büchertisch die neusten Arbeiten des Genies auf. Stehen die Genialen dann ein bisschen linkisch bei diesem Tisch, werden sie spätestens beim Büchersignieren zu ganz gewöhnlichen Kleinkrämern, die sich der Erpressung beugen, dass ihre Ware nur gekauft wird, wenn sie ihren eh schon aufgedruckten Namen auch noch draufschreiben.

(04.05.1989, 04.07.1997; 06., 09.+15.02.2018)

 

Nachtrag 1

Dieses Werkstück karikiert die Vorlesekultur des Literaturbetriebs in den 1980er und -90er Jahren. Seither hat sich diese Kultur verändert. Die mündliche Vermittlung von literarischen Texten ist performativer geworden. Betreten heute AutorInnen eine Bühne, ist das nicht mehr von vornherein die Androhung von Peinlichkeit und Langeweile.

• Unterdessen gibt es viele AutorInnen, die fähig sind, ihre Texte unterhaltend vorzutragen, es gibt sogar welche, die das mit beträchtlichen kabarettistischen, schauspielerischen und/oder musikalischen Fähigkeiten tun.

• Diese stärker performativ gedachten Texte haben teilweise neue literarische Qualitäten. Inwieweit das performative Denken der AutorInnen die Machart, die Formen und die Inhalte literarischer Texte verändert, müsste untersucht werden.

• Im Bild des Werkstücks könnte ich zwar behaupten, die Schreibenden seien unter dem verstärkten Marktdruck von ihren Verlagen in eine neue Rolle gedrängt worden:  Neben dem Kleinkrämer müssten sie nun auch noch den Clown, den Marktschreier, und/oder die Strassenmusikerin geben, um als Autor oder Autorin gelten zu dürfen.

• Möglich ist auch, dass ich mich insofern täusche, als sich die Literaturproduktion im letzten Vierteljahrhundert weniger verändert als diversifiziert hat. Es ist ja nicht so, dass keine aus- und abschweifende Prosa mehr verfasst würde. Auf dem Buchmarkt wird alles angeboten, was sich verkaufen lässt, vom professionell performten Live-Mitschnitt einer Lyriklesung als CD bis zum literarisch aufgemotzten Kriminalroman im Hardcovereinband.

(06.+09.02.2018)

 

Nachtrag 2

Zweifellos geht es um Diversifizierung, nicht um Veränderung. In einem Interview, das ich eben gelesen habe, wird der Schriftsteller Peter Stamm darauf angesprochen, dass Lesungen im Trend seien: «An gewissen Veranstaltungen bezahlen Hunderte von Leuten Eintritt, um einem Autor beim Vorlesen eines Buches zuschauen zu dürfen. Können Sie das verstehen?» Stamm antwortet: «Ich staune auch immer: Oft bezahlen die Leute mehr Geld für den Eintritt an eine Lesung als für das Buch. Wir Autoren sind froh darüber, für viele sind Lesungen das Haupteinkommen. Das ist aber ein deutschsprachiges Phänomen, die ausländischen Autoren beneiden uns darum.» Beigefügt hat er, dass er zwar gerne an Buchmessen gehe, jedoch: «Die Lesungen an den Messen allerdings sind furchtbar. Die Unruhe in dem Gewimmel ist nervig. Aber das ist Teil des Geschäfts.» (Weltwoche, 21.02.2018)

Demnach gibt es insbesondere im deutschsprachigen Literaturbetrieb eine ideologische Konstruktion, die lautet: Lesungen an Buchmessen sind Teil des Geschäfts, Lesungen von einzelnen Autorinnen oder Autoren gegen Eintritt dagegen sind kulturelle Veranstaltungen. Tabu ist, dass kulturelle Veranstaltungen demnach auch Teil des Geschäfts sind und deshalb das Geschäft die eigentliche Kultur ist.

(26.02.2018)

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