Aeblis Flucht aus den Wörtern

In den zehn Jahren, in denen ich mich öffentlich mit Kurt Aeblis literarischen Arbeiten auseinandergesetzt habe, hat mich am meisten sein hochartifizielles und reflektiertes Verhältnis zur Sprache interessiert und provoziert.

1. «Die Flucht aus den Wörtern – Notizen» (1984). – Zum ersten Mal erwähnte ich Aebli im Rahmen einer Sammelbesprechung, in der ich Texte von jungen Autoren auf den Gestus des Am-Fenster-Stehens – also des unbeteiligten Beobachtens von Wirklichkeitsfragmenten – zusammenstellte: « […] Dieser Prosatext ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens hält er den Gestus des Fensterstehers auch formal konsequent durch: Der Text zerfällt in unzählige ‘Fensterblicke’, Notizen, Reflexionen, tagebuchartige Aufzeichnungen: ‘Schreiben nur noch als die Weigerung des Schriftstellers, die Welt noch einmal für andere zusammenzuflicken. Nur noch die rohen Details.’ Zweitens reflektiert der Text den Gestus des Fensterstehers als eine Reaktion auf die völlige Funktionslosigkeit (und das heisst auch: Ortlosigkeit) des jungen, ohne jede Öffentlichkeit und ohne jedes Sozialprestige arbeitenden Autors. ‘Und solange man allein lebt, gibt es nur die Angst, sich endgültig irgendwo einzurichten, welche die Angst davor ist, die eigene im Grunde unerträgliche Situation festzumauern, darin Gefangener zu werden, die Tür hinter sich zu schliessen.’ Einerseits wird Aebli hinausgetrieben – und das heisst in diesem Land mehr als anderswo: im Kreis herum getrieben –, andererseits schafft er es nicht mehr, durch das Fenster ins Freie hinauszukommen. Die Flucht hinaus führt hinter neue Fenster: ‘Äussere Bewegung (sich in einen fahrenden Zug setzen), weil im Stillstand das Zerreissende überall angreifen kann. Mit grossen Pfoten das Zerreissende in mir.’» («Die Fenstersteher», in: WoZ, Nr. 33/1984)

Kurt Aebli: Die Flucht aus den Wörtern. Zürich (Rauhreif Verlag) 1983.

2. «Die Vitrine – Erzählungen» (1988). – «‘Arbeiten mit der Sprache und in der Sprache, der einzige Ort, den man Heimat nennen könnte, wäre das Wort überhaupt noch mit einer brauchbaren Vorstellung zu verbinden.’ (aus: ‘Die Flucht aus den Wörtern’) […] In den jetzt bei Rauhreif publizierten Erzählungen ‘Die Vitrine’ zeigt sich: Aebli ist in der Zwischenzeit nicht aus den Wörtern, sondern in (und hinter) die Wörter geflüchtet und sein Verdikt, das er damals über das Wort ‘Heimat’ gefällt hat, fällt er unterdessen über den ganzen Wortschatz: Die Wörter lassen sich mit keinen brauchbaren Vorstellungen mehr verbinden: ‘Ich mache mir endgültig meine Wörter zum Thema. […] Aufhören mit dem symbolischen Gerede, dem Gemurmel der Zeichen, Schluss, Vorhang, aus.’ Der Ich-Erzähler von Aeblis 46 kurzen Prosatexten ist ‘besessen von der Idee der ‘Wörter’, aber allergisch auf ‘übersteuerte Fälschlinge, Satzpinscher’. Es geht ihm nur noch um ‘Wörter, was sonst’, obsolet ist ‘die aufs peinlichste rekonstruierte Darbietung Ausschnitt aus der Wirklichkeit’ in einer ‘von Nachrichten und Welthaltigkeiten verpestete[n] Luft’. Das Abbilden von Wirklichkeit mittels Wörtern ist ein archaisches Verfahren. Aeblis Schrift-Stellen dagegen soll die Wörter vom Zwang befreien, abbilden zu müssen, über sich selbst hinaus etwas meinen zu sollen. Die Wörter meinen nur noch sich selber, werden vom Mittel zum Zweck: ‘So schnell schreiben, dachte ich, dass man keine Gedanken mehr hinter dem Geschriebenen vermuten kann […] einzig das lautlose ununterbrochene Vorwärtspfeilen eines hellen Wörterstrahls.’ Als Avantgardist einer postmodernen Schreibhaltung erledigt der scharfsinnige Aebli das, woran wir vorsintflutlichen Linken mit Leib und Leben hängen: den Inhalt.» («Heller Wörterstrahl», in: WoZ, Nr. 32/1988)

Kurt Aebli: Die Vitrine. Zürich/Villingen (Rauhreif Verlag) 1988.

3. «Küss mich einmal ordentlich – Prosa» (1990). – «Schon in ‘Die Vitrine’ (1988) war aus Aeblis ‘Flucht aus den Wörtern’ (1983) eine Flucht in und hinter die Wörter geworden. Diese Flucht war aber nicht nur – wie die bemühenden Wortwitzeleien in einigen der neuen Texte – Ausdruck des Jungmännerproblems, sich hinter seiner öffentlichen Produktion verstecken zu müssen. In seinen sprachreflexiven Passagen war Aeblis Erzählen gleichzeitig ein Nachdenken über die Grenzen der Sprache als Medium des Erzählens. Neuerdings schliesst Aebli kurz: Er erzählt in einer Sprache, die sich aus dem Gefängnis des Sinns in eine sinnlose Freiheit befreit hat. ‘Die Sprache beschwor vergitterte Fenster herauf’, heisst es in der Titelgeschichte. Aeblis Sprachradikalität ist nicht radikal für oder gegen etwas ausserhalb der Sprache, sie lehnt sich gegen die Sprache selber auf und beweist: Vor, in und erst recht hinter den Wörtern ist nichts. Damit löst auch sie sich in Sinnlosigkeit auf. Denn indem Radikalität selbstzerstörerisch das Medium Sprache kaputtdenkt, macht sie es vom Mittel zum Zweck. Welchen Sinn aber hat Sprache, die sich weigert, Kommunikationsmittel zu sein? ‘Derwick versuchte, sich während des Gehens an die Geschichte mit den Telefonapparaten zu erinnern. Es gab viele Tausende von Telefonapparaten in der Geschichte. Derwick hatte vergessen, was Telefonapparate waren.’ ‘Telefonapparate’ sind fünfzehn Buchstaben: Dahinter gibt’s nichts mehr, weder Welt noch Bild noch Wahrheit […].» («Gelähmte Gliedmassen», in: WoZ, Nr. 39/1990)

Kurt Aebli: Küss mich einmal ordentlich. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1990.

4. «Mein Arkadien. Prosa» (1994). – «Kurt Aebli begann zu schreiben als Chronist weitgehend sinnfreier Wirklichkeitsfragmente (‘Über Nacht ist Schnee gefallen. Die enthauptete Landschaft; eine vom Auge abgerückte Zeichnung’), hinterfragte dann zunehmend das Arbeitsmaterial Sprache, bis ihm die Begriffe und ihre Bedeutungen auseinanderzubrechen begannen und er seine Frage – ‘Was ist hinter den Wörtern?’ – von Text zu Text deutlicher mit ‘Nichts’ beantwortete. Aus dieser Ent-Täuschung folgt: Sprache taugt nicht zum Transport von Inhalten. […] Kompliziert geworden ist es deshalb, Aebli zu verstehen. Die Erzählposition – durchwegs ein ‘Ich’ – ist vergleichbar mit einer gut hörbaren, wohl artikulierten Stimme mitten in einem Spiegelkabinett. In allen Spiegeln scheinen einerseits fragmentarisch die Umrisse der sprechenden Person flüchtig aufzuscheinen, andererseits wird immer deutlicher, dass es zu dieser Stimme keine Person gibt: Man ist allein im Spiegelkabinett. Aeblis Prosa hat etwas Gespenstisches angenommen. Sicher ist nur: Darum, worum es zu gehen scheint, geht es nicht. Das ist wohl der Grund, weshalb Aebli vom Feuilleton-Redaktor der Basler Zeitung, Urs Allemann, zum ‘kleinen Chor Schweizer Nichtrealisten’ gerechnet wird. Und vielleicht kann man deshalb – in Anspielung auf Allemann als Schriftsteller – Aeblis Prosa im genauen Wortsinn als ‘Babyficker’-Literatur bezeichnen (vgl. hier, Nachtrag): als Literatur, die Begriff und Bedeutung soweit dekonstruiert hat, dass sich jede inhaltliche Rezeption selber disqualifiziert: Wer sich einbildet, beim Lesen etwas zu verstehen, versteht nichts von Literatur. […] Die Wahrheit ist: ‘Seltsame Laute bildeten sich von selbst in meinem Gehirn: Afklisch, Greitzbrolst, Hastilurf.’ Aeblis Texte stehen für mich für einen bisher nicht gekannten Grad von Entfremdung. Als ob einer tödlich gelangweilt seine eigene Biographie am Fernseher mitverfolgen würde, überzeugt, dass kein Mensch auf die Einwegkommunikation des vorproduzierten Spielfilms, der das eigene Leben ist, Einfluss nehmen kann.» («Afklisch, Greitzbrolst, Hastilurf», WoZ, Nr. 8/1994)

Kurt Aebli: Mein Arkadien. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994.

(08.1984; 08.1988; 30.09.1990, 02.1994)

 

Nachtrag

«Frederik. Erzählung» (1997). – Die Erzählung hat drei Abschnitte: Erstens reist Yvette von Zürich nach New York, um Frederik zu treffen; sie findet ihn nicht und verliert sich zusehens in der Riesenstadt. Zweitens treibt sich Paul, bei dem Yvette in New York wohnt, in der Stadt herum und reist schliesslich nach London. Drittens lebt Frederik in Berlin am Rande der absichtslosen Selbstauflösung und zieht sich schliesslich – im Epilog – in ein Haus im Hochgebirge zurück, wo er nach mehreren Monaten eine Schreibmaschine entdeckt und aus schleierhaften Gründen ein Blatt einspannt. Soweit die Eckdaten. Der Plot will nichts zusammenhalten, wie die Welt nicht mehr zusammenhält, die abgebildet wird. Passagenweise werden kurze Prosastücke aneinandergereiht, die mit dem supponierten Plot keinen Zusammenhang haben. Aeblis Weltsicht bleibt unverändert, wenn sie auch zunehmend mit einem walsernd-fundamentalen Kannitverstan zu kokettieren scheint: «Nicht das verschwindendste Wahrnehmungspartikelchen zeigte die geringfügigste Neigung, ihm ohne weiteres einzuleuchten. Alles wirkte aberwitzig, deplaziert, artifiziell.» Treu bleibt Aebli auch seinem Motto aus der «Flucht aus den Wörtern»: «Schreiben nur noch als die Weigerung des Schriftstellers, die Welt noch einmal für andere zusammenzuflicken. Nur noch die rohen Details.» Allerdings scheint die «Flucht aus den Wörtern» zurzeit wieder eher eine Flucht mit den Wörtern aus der Welt zu sein.

Kurt Aebli: Frederik. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997.

(09./21./27.11.1997; 13.02.2018)

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