Sterben lernen

Gestehe ich der menschlichen Existenz eine Tragik zu (die ihr, fasst man sie als biologische Tatsache, nicht zukommt, weil Werden und Vergehen «natürlich» ist, nicht «tragisch»), dann ist es diese: dass wir wissen können, leben zu wollen und sterben zu müssen. Das ist die mit keiner wissenbasierten kulturellen Strategie überschreitbare Aporie der menschlichen Existenz. Hier hilft nur der Wechsel des Erkenntnismodus weiter: Am Ende des Wissens bietet sich der Glaube an. Gläubigkeit ist insofern eine zu respektierende menschliche Strategie, um mit der Endlichkeit der eigenen Existenz zu Rande zu kommen.

Dieses individuelle Bedürfnis nach Gläubigkeit ist, seit es Gesellschaften gibt, zur Unterdrückung der Menschen und zur Konstituierung von weltlicher Macht ausgebeutet worden. Die Ideologisierung dieses Bedürfnisses nennt man «Religion». Die Materialisierung dieser Ideologie zu Institutionen erfolgt über sogenannte «Kirchen». Zu ihrer Funktion als «ideologische Staatsapparate» lese man Louis Althusser.[1]

Aber was dann?

Glauben? Jeder Mensch soll glauben, was ihm hilft. Wenn er jedoch mit seinem Glauben missioniert, ist nur noch eines interessant: In wessen Interesse macht er sein Problem zum Rezept für andere?

Oder doch wissen? – Ja. Und das heisst bei Strafe des Glaubenmüssens: Sterben lernen.

[1] Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Gesammelte Schriften 1/1. Hamburg (VSA) 2016/2, insb. S. 53ff.

(29.6.2009; 25.+31.01.2018)

 

Nachtrag

Menschheitsgeschichtlich gesehen sind die Religionen wohl magische Schutzschilder des heraufkommenden logozentrischen Zeitalters gegen das Schicksal des eigenen Todes. Hinter dem Schein dieses Schilds steht uneinnehmbar das Schweigen des Tods. Gegen dieses Schweigen hilft nichts als das eigene.

(20.09.2013; 19.05.2018)

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