Der notwendige Gott

Je mehr ich eine als wahr erkannte Einsicht mit Fragen konfrontiere, die auf ein Absolutes zielen, desto mehr zerfällt die Einsicht. Horkheimer: «Alles, was wir wissen wollen, zerfällt. Es bleibt das Nichts.» Offenbar gehen zwei Dinge nicht zusammen: Ein Wahrheitsbegriff, der in der Praxis Gültigkeit haben könnte und die Postulierung einer absoluten Wahrheit. Entweder gibt es eine absolute Wahrheit – Deus ex machina und black box zugleich im eigenen Denken – und dann ist alles, was erkennbar und formulierbar ist, unwahrer Schein. Oder es gibt unendlich viele relative Wahrheiten, die sich kreuz und quer überschneiden und ausschliessen – dann ist keine allumfassende, übergeordnete Wahrheit denkbar.

Leicht einsehbar ist, dass die Weltsicht, die die absolute Wahrheit postuliert, eine Wahrheit «von oben» verteidigt. Die Wahrheit «von unten» ist unbeständig. Sie zerfällt in die vorläufigen, punktuellen Wahrheiten, die sich kaleidoskopartig im permanenten Gewusel der Graswurzelperspektive verändern. Weil «Gott» als absolute Wahrheit die «Wahrheit von oben» ist, ist sie «von unten» nicht zu begreifen. Nichts anderes als die Unwiderlegbarkeit, mit der Gott «von oben» seit je behauptet worden ist, hat den Glauben an ihn unten erzwungen.

Wer sich zu Gott bekennt, bekennt sich zur «Wahrheit von oben» in der Hoffnung, sie dadurch günstig zu stimmen. Denn «Wahrheit von oben» ist unerforschlich und unbeeinflussbar, weil sie von jenen Menschen hergestellt wird, von denen man abhängig ist. Darum ist «Gott» die notwendige Waffe der Herrschaft – in säkularen Gesellschaften subsidiär einzusetzen neben der Waffe Geld.

[1] Max Horkheimer: Späne, Gesammelte Schriften Bd. 14, Frankfurt am Main (Fischer) 1988, S. 338.

(30.07.1989, 14.09.1997; 24.01.2018)

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