In seinem Buch «Gotteskrise» stellt Arnold Künzli im Anschluss an Hans Jonas die Theodizee-Frage so: Wie konnte der christliche Gott Auschwitz zulassen? (S. 257ff). Antwort: Entweder war er in diesen Jahren nicht allmächtig, respektive ohnmächtig oder ihm ist das Schicksal der Menschen im Allgemeinen und seines auserwählten Volkes im speziellen gleichgültig. Nach Auschwitz muss deshalb der allmächtige Gott des alten Testaments tot sein. Daraus folgt die Gotteskrise, die Künzli als «Krise des Monotheismus» fasst. Als Alternativen dazu verwirft er nacheinander den Polytheismus, den Atheismus, die Naturreligionen und die Neureligionen. Gegen diesen «sich abzeichnenden Konkurs sowohl der Alt- wie der Neureligionen» stellt er einen «sich gleichzeitig als religiös und als Ethik verstehende[n] Agnostizismus» (S. 14).
Einverstanden mit Künzli bin ich, dass er einem kruden Atheismus das «religiöse Bedürfnis» als «anthropologische Konstante» gegenüberstellt (S. 310). Dieses Bedürfnis werde umso drängender, «je weniger die Menschen sich in ihrer Welt zurechtfinden» (S. 305). Künzli zitiert Romain Rolland, der in einem Brief an Sigmund Freud «die eigentliche Quelle der Religiosität» als «Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‘Ozeanischem’» beschrieben habe (S. 249). Dieses Gefühl sei «die Quelle der religiösen Energie, die von den verschiedenen Kirchen und Religionssystemen gefasst» werde. Mit Hinweis darauf, dass Rolland auf Stalin – genauso wie Jung auf Hitler – «hereingefallen» sei, kommentiert Künzli «das Gefahrenpotential religiöser Gefühle, denen man sich unter Preisgabe seiner kritischen Vernunft» anvertraue und «die dazu neigen, Immanentes zu sakralisieren» (S. 250).
Soweit einverstanden. Was Rollands Position gegenüber jener Künzlis auszeichnet, ist die Tatsache, dass er zumindest versucht hat, das «religiöse Bedürfnis» inhaltlich zu füllen. Künzli tut das nirgends befriedigend, obschon er – wie erwähnt – für einen «sich gleichzeitig als religiös und als Ethik verstehende[n] Agnostizismus» plädiert.
Für mich gibt es nur eine befriedigende Erklärung für dieses «religiöse Bedürfnis»: die Tatsache, dass die Menschen mit einem Bewusstsein geschlagen sind, das sie um ihre Endlichkeit und Sterblichkeit, also um ihren bevorstehenden, unausweichlichen Tod wissen lässt. Das ist der fundamentale Skandal, mit dem das menschliche Bewusstsein, je mehr es sich schärft, umso weniger zu Rande kommt. Vermutlich ist die ganze religiöse Anstrengung des Menschen, die eigene Existenz an eine irgendwie geartete Transzendenz zurückzubinden, nichts anderes als die Fluchtbewegung des eigenen Bewusstseins vor diesem Skandal – und jede religiöse Organisation seine institutionelle Ausbeutung zum Zweck diesseitiger Machtausübung.
Tatsache ist: Es gibt als Perspektive nur den eigenen Tod, der jederzeit eintreten kann und das, was man ist (oder zu sein meint), vollständig und unwiderruflich vernichten wird. Das «religiöse Bedürfnis» besteht darin, glauben zu wollen, dass diese niederschmetternde Tatsache keine sei. Alle Befriedigungen des Bedürfnisses laufen darauf hinaus, die unleugbare Tatsache durch kompensatorische Behauptungen zu übertrumpfen («ewiges Leben», «Leben nach dem Tod», «Paradies» etc.). Diese Kompensationen sind narrativ und illusionär, tröstliche Geschichten halt für Sterbliche, die nicht sterben möchten.
Die gesellschaftspolitische Ausbeutung der Illusion postmortaler Kompensation für die Endlichkeit und das Leiden des Lebens: Das ist eine Definition für das, was man Religion nennt. – Ist das nicht atheistisch argumentiert? – Ich brauche in der Tat keine Transzendenz, um mir das «religiöse Bedürfnis» als anthropologische Konstante und seine Ausbeutung in weltgeschichtlichen Dimensionen zu erklären. Für all das genügt die unhintergehbare Angst vor dem eigenen Tod. Trotzdem würde ich mich nie als Atheisten bezeichnen, und zwar weil mich Künzlis Argument überzeugt, Atheismus sei ein Glaube, nämlich die Anmassung eines «negativen Wissens von Gott» (S. 296): Nur religiöse Menschen können sich über die Frage streiten, ob es einen Gott respektive eine jenseitige Instanz gebe oder nicht.
Gerade deshalb aber verstehe ich Künzlis Begriff eines «religiösen Agnostizismus» nicht – umso mehr als er ihn selber «auf den ersten Blick als absurd» und «als ein Widerspruch in sich selbst» bezeichnet (S. 309), um sich danach trotzdem an seiner Rettung abzuarbeiten. Agnostizismus, wie ich ihn verstehe, kann gar nicht anders als religiös indifferent, also a-religiös sein – schon aus Bescheidenheit vor den letzten Fragen, die man stets wieder stellen, aber nie beantworten können wird. Agnostische Menschen haben mit der Praxis eines ethisch halbwegs vertretbaren Lebens genug zu tun und keine Lust, sich um metaphysische Spitzfindigkeiten wie die «Letztbegründbarkeit» ethischen Handelns zu streiten: Wenn man den Menschen – auch den theologisch Geschulten – bei ihrem Tun und Lassen zuschaut, wird die Ethik ihres Handelns in aller Regel ganz ohne metaphysischen Schwurbel verstehbar.
A-religiöser Agnostizismus würde für mich bedeuten: Ich habe vor jedem Menschen Respekt, der in der Auseinandersetzung mit dem eigenen bevorstehenden Tod nicht zu Rande kommt, das heisst: Ich respektiere jedes «religiöse Bedürfnis» (auch mein eigenes, wenn es in mir auftauchen sollte). Ich betrachte jedoch jene Menschen als vorbildlich, die trotz des Todesbewusstseins nicht in narrative Illusionen und in die Stallwärme der sie tradierenden Institutionen flüchten, sondern sich in Fragen der Transzendenz mit dem «Bekenntnis des Nichtwissens» (S. 296) begnügen. Mit Anstand leben und mit Anstand sterben – mehr ist weder möglich noch nötig. Nur jenen Menschen, die ihr Handeln nicht selber verantworten können oder wollen, kann eine metaphysische Instanz Trost sein. Vermutlich ist Gott ein kindliches Bedürfnis, das mit zunehmendem Alter allmählich kindisch wird.
[1] Arnold Künzli. Gotteskrise – Fragen zu Hiob. Lob des Agnostizismus. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1998.
(31.7.2000; 25.+31.01.2018)
Wie die unhintergehbare Angst vor dem eigenen Tod, die ich im Werkstück erwähne als Ursache für das «religiöse Bedürfnis», zu überwinden wäre, hat der Philosoph Epikur im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in seinem «Brief an Menoikeus» so formuliert: «Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.» Auf diese Art lässt sich das religiöse Bedürfnis als Reflex auf die Todesangst denkend überwinden. Es im tätigen Leben ganz überflüssig bleiben zu lassen, ist Teil einer anzustrebenden Lebenskunst.
(11.8.2000; 25.01.+01.02.2018)