Am Fliessband

Je subjektiver man Mimesis im belletristischen Bereich zum Beispiel mittels innerem Monolog, im journalistischen in Reportagen anwendet, desto zufälliger und beliebiger wird das, was erzählt respektive reportiert wird. Diese Subjektivierung der mimetischen Anstrengung hat Folgen für die Textproduktion und die Textrezeption.

• Für die Textproduktion stellt sich die Frage: Was ist als Thema noch relevant, was als Stoff noch bedeutend genug, um überhaupt bearbeitet zu werden, wenn nach der mimetischen Anstrengung Relevanz und Bedeutung kaum mehr von Beliebigkeit zu unterscheiden sein werden? Ist – im belletristischen Feld – zum Beispiel die öffentlich betriebene Selbst-Psychoanalyse relevant? die eigenen Vorlieben oder eine zufällige Nähe zum Thema? das gefällige Spiel mit diskursiven Moden oder angesagten Formen? Und im journalistischen Feld: Ist die Aktualität als Selbstzweck relevant? der phantasievolle Umgang mit den Wünschen des Arbeitgebers? mit jenen der gesellschaftlichen Player? Oder geht es auf beiden Feldern schlicht um das Sich-Behaupten auf dem Markt, das Auffallen mittels Sensationen, Provokationen, Eskapismus, Exotismus? einfach mit allem, was Neugier und Nachfrage erzeugen könnte?

• Im Bereich der Textrezeption ist der gesellschaftliche Konsens darüber, was zum publizistischen Kanon gehöre, in den letzten Jahrzehnten geschrumpft. In dem Mass, in dem das mimetische Bemühen von einzelnen Schreibenden kein Publikum mehr zu generieren vermochte, das eine gewinnbringende Distribution der Texte garantiert hätte, in dem Mass nahm die Bedeutung der Kanonisierungsinstanzen zu, die in einem gesamtgesellschaftlichen Sinn Definitionsmacht besitzen. Im Bereich der Belletristik sind das Verlage, Feuilletonsredaktionen, Universitäten und  Jurys, die Preise vergeben. Für den Journalismus sind es neben den Medienhäusern als Arbeitgebern insbesondere die Medienabteilungen von Firmen, Institutionen und Verwaltungen, die die Öffentlichkeit nach den Regeln der propagandistischen Kunst einzunehmen haben für ihre Arbeitgeber und deren Interessen.

Auf beiden Feldern müssen TextproduzentInnen, wollen sie von ihrer Arbeit leben, die Vorgaben und Vorlieben solcher Kanonisierungsinstanzen bedienen. Dieser permanente Druck entlastet vom Anspruch, sich selbst als mimetische Instanz setzen zu wollen, die nicht von Marktgängigkeit und vorformuliertem Material, sondern vom eigenen Hinschauen und Nachfragen ausgehen möchte. TextproduzentInnen auf beiden Seiten der Grenze zwischen Belletristik und Journalismus stehen an Fliessbändern und stellen aus vorbeiziehenden Rohmaterialien Waren her, die sie sogar für originell und eigen halten dürfen, solange sie verkäuflich sind. Dass sie für die Veröffentlichung sogar ihren Namen ans Produkt heften dürfen, tröstet sie über vieles hinweg.

(bis 11.11.2012; 11.+16.01.; 16.07.2018)

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